Wie eine Handvoll Sand
Eine Erzählung von Verena Themsen


Im Schankraum des einzigen Gasthofes in Sandend herrschte Hochbetrieb. Ein fahrender Sänger war dort, und jeder war gekommen, um zu hören, was er zu berichten hatte. Das halbe Dorf hatte sich versammelt, und schon jetzt wurden wilde Vermutungen darüber laut, was der Sänger wohl erzählen würde.
Es machte Yriontey Spaß, die erwartungsvolle Menge zu beobachten, während er seine Laute stimmte, und hin und wieder schalkhaft zu grinsen, wenn er ein junges Mädchen dabei ertappte, wie es ihn heimlich anstarrte.
Als er seinen Vortrag mit den neuesten Nachrichten und dem Klatsch der Umgebung begann, wurde es still. Mühelos durchdrang seine klare Stimme den Raum, so daß jeder verstehen konnte, was er zu berichten hatte.
Doch Yriontey mußte feststellen, daß es eine Person im Raum gab, die sich nicht für seine Berichte zu interessieren schien, sondern sich im Gegenteil am entferntesten Ende des Raumes niedergelassen hatte. Es war eine junge Frau in Reisekleidung mit langem, goldblondem Haar, das sie in einem fest an den Kopf geflochtenen Zopf trug. Ihre helle Haut hob sie von den Einheimischen ab, und auch der Schnitt ihrer Kleidung ließ erkennen, daß sie nicht aus der Gegend war. Immer wieder glitt ihr Blick über die Menge, ohne jedoch zu finden, was sie suchte, und blieb dann stets einen Moment lang an der Tür hängen, ehe sie wieder auf den Metbecher in ihrer Hand starrte. Ihre Haltung verriet Unruhe, vielleicht auch Sorge.
Gerade drückte der Wirt sich durch die Menge der Leute, um sich diesem seltsamen Gast aus der Fremde zu widmen. Um das Spiel des Sängers nicht zu stören, bewegte er sich so leise wie möglich an ihren Tisch und beugte sich dann zu ihrem Ohr herunter.
"Kann ich irgend etwas für Euch tun, Lady Cyrill?" fragte er flüsternd. Die junge Frau schreckte aus ihren Gedanken hoch und blickte auf. "Ja", meinte sie nach kurzem Nachdenken, "Ihr könntet mir vielleicht ein Abendbrot bringen; nichts großes, nur etwas Leichtes für die Nacht. Und..." sie zögerte kurz, ehe sie fortfuhr: "Könnten sich vielleicht Eure Helfer nachher bei den Gästen erkundigen, ob sie nicht gestern oder heute hier eine Kriegerin von Nordosten her haben durchreiten sehen?"
Nachdenklich wiegte der Wirt seinen Kopf. "Das könnte ich natürlich tun; ich glaube aber nicht, daß das etwas nützt, denn wenn sie hier in der Gegend gesehen worden wäre, so hätte ich als erster davon erfahren. Kämpferinnen sind hier kein sehr häufiger Anblick."
"Tut es trotzdem. Bitte." Und sie sah den Mann seltsam eindringlich an, so daß er gar nicht anders konnte als nicken. "Natürlich", murmelte er. "Wenn Ihr darauf besteht..." Cyrill drückte ihm eine Münze in die Hand, und erfreut lächelnd verschwand der Wirt in Richtung Küche.
Nun wandte sie doch einen Teil ihrer Aufmerksamkeit dem Gesang zu, und sie stellte fest, daß er für einen fahrenden Sänger, den es in eine so abgelegene Gegend verschlagen hatte, erstaunlich gut war. Und dabei schien das, was er hier bot, für ihn kaum mehr als Spielerei zu sein. Er könnte genauso gut an einem der Höfe der hiesigen Kleinfürsten spielen, kam es ihr in den Sinn. Aus welchem Grund er wohl nicht dort hin geht?
Doch dann kehrten ihre Gedanken wieder zu ihren eigenen Sorgen zurück. Seit zwei Tagen war Kathra nun schon überfällig, und das war untypisch für sie. Egal, wann und wo sie verabredet gewesen waren, stets hatte die Kriegerin den Zeitpunkt eingehalten; sie war sogar eher überpünktlich gewesen als daß sie riskierte, zu spät zu kommen.
Was, wenn ihr etwas zugestoßen ist... Cyrill lief ein Schauer über den Rücken und sie spürte, wie ihr Kopfhaar sich aufrichtete. Eine Welle schien durch die Flüssigkeit in ihrem Becher zu laufen, und ein Bild begann sich abzuzeichen... eine kämpfende Gestalt, die von mehreren Reitern unbarmherzig eingekreist wurde... eine Frauengestalt. Kathra?
In diesem Moment fiel ein Schatten über das Bild, und es verschwand. Irritiert sah Cyrill auf. Ein junger Mann stand an ihrem Tisch und sah auf sie herunter. Er wirkte leicht belustigt, und kleine goldene Funken schienen durch seine Augen zu tanzen, während er sie betrachtete.
"Verzeiht; ich hoffe, ich habe Euch nicht erschreckt", sagte er mit angenehm warmer Stimme. Und nach einem weiteren Blick in ihr Gesicht fügte er hinzu: "Alle Götter, Ihr seht ja geradezu aus, als hättet Ihr ein Gespenst gesehen! Ist mein Anblick denn so gräßlich?"
Cyrill hatte den Eindruck, daß leichter Spott in seiner Stimme lag; doch da war noch mehr, was sie nicht so leicht erkennen konnte, eine Spur Selbstironie vielleicht...
Entschuldigend lächelte sie ihn an.
"Nein, keine Sorge, es liegt nicht an Euch; ich hatte nur einen schlechten Gedanken... aber wer seid Ihr, und warum kommt Ihr an meinen Tisch?"
"Ich bin der arme Sänger, dessen hohe Kunst Ihr soeben so schmählich mit Mißachtung bedacht habt. Ich konnte nicht umhin, Eure mangelnde Aufmerksamkeit zu bemerken, und da dachte ich mir, ich müsse mir die junge Frau doch einmal näher ansehen, die meine Fähigkeiten so wenig zu schätzen weiß. Darf ich mich zu Euch setzen?"
Cyrill war noch gar nicht aufgefallen, daß die Musik aufgehört hatte. Schuldbewußt wanderte ihr Blick hinüber zum Kamin, wo der Sänger bis vor kurzem noch gesessen hatte. Dann sah sie wieder zu ihm zurück und forderte ihn mit einer Geste auf, Platz zu nehmen. Er dankte ihr mit einer leichten Verbeugung, streifte sich die Laute von der Schulter und legte sie fast zärtlich auf den Tisch. Dann nahm er ihr gegenüber Platz.
Interessiert betrachtete Cyrill den jungen Künstler. Er war schlank und wirkte länger, als er war; und wenn er grinste, hatte er etwas jungenhaftes an sich. Dies wurde von seiner launig bunten Sängerkleidung noch unterstrichen, an die hier und da sogar ein paar bunte Bänder angeheftet waren. Was Cyrill jedoch faszinierte, waren die goldenen Sprenkel in seinen dunkelbraunen Augen, die wie kleine Funken wirkten.
"Ihr seid nicht von hier, habe ich recht?" bemerkte der Sänger, nachdem er sie kurz gemustert hatte.
"Ich meine damit, aus diesem Herzogtum."
Cyrill lächelte. "Ihr habt ein scharfes Auge. Ich bin aus den Handelsstädten im Norden."
Sie log, und sie wußte, daß er wußte, daß sie log. Sie hatte nichts, aber auch gar nichts mit den dunklen Menschen der Nordstädte gemeinsam. Es war lediglich eine höflichere Form, das geht dich nichts an zu sagen.
Irgend jemand reichte Yriontey etwas zu trinken, und er griff dankbar danach. Eine Weile saßen sie einander schweigend gegenüber, jeder in seine eigenen Gedanken versunken. Wieder war es der Sänger, der als erster sprach.
"Ihr macht euch Sorgen um etwas oder jemand." Seine Bemerkung war mehr eine Feststellung als eine Frage. Sein Beruf erforderte Beobachtungsgabe und Menschenkenntnis, und diese Eigenschaften besaß er in genügend hohem Ausmaß, um sich in diesem Punkt sicher zu sein.
Statt einer Antwort hob die junge Frau nur den Kopf und sah ihn an. Ihm fiel auf, daß ihre Augen blau waren; doch es war nicht das Blau des Himmels, sondern eher die Farbe, die ein See an seiner tiefsten Stelle annahm. Im Stillen beneidete Yriontey sie um diese Farbe.
Als er merkte, daß sie nicht antworten würde, beschloß er, einfach seine weiteren Vermutungen zu erproben.
"Kann es sein, daß ihr jemanden erwartet, der sich verspätet hat? Einen Freund vielleicht?" Ein leichtes Zucken verriet ihm, daß er auf der falschen Spur war. "Vielleicht eine Freundin?"
Diesmal nickte Cyrill, schien jedoch noch immer nicht bereit, mit ihm darüber zu reden. Hingegen tauchte in ihrem Blick eine Wachsamkeit auf, die jederzeit in Ablehnung umschlagen konnte. Yriontey beschloß, einen taktischen Rückzug vorzunehmen. Er trank seinen Becher aus und erhob sich.
"Verzeiht, wenn ich Euch auf unhöfliche Weise belästigt habe, namenlose Schöne, doch Neugier gehört zu meinem Beruf. Außerdem tat ich es, um Euch gegebenenfalls meine Hilfe anzubieten, was ich hiermit tue. Durch meine Reisen kenne ich mich in dieser Gegend sehr gut aus, und solltet Ihr irgend etwas planen, bei dem ich von Nutzen seine könnte, sagt es mir einfach."
Damit nahm er seine Laute und wandte sich ab.
"Ihr Name ist Kathra, und sie ist meine... beste Freundin", hörte er sie da deutlich sagen. "Sie wollte durch die Wüste und sollte seit zwei Tagen hier sein."
Er drehte sich nach ihr um, doch sie blickte bereits wieder in ihren Becher, als habe sie zu ihrem Met gesprochen, nicht zu dem Sänger. "Wie ist Euer Name?" fragte sie dann ohne aufzublicken.
"Yriontey", antwortete er nach kurzem Zögern. Nun sah sie doch noch einmal auf, und ihre Augen schienen sich etwas zu weiten. Offensichtlich hatte sie seinen Namen bereits gehört.
"Dann vertraue ich Euch", sagte sie leise, ehe sie ihren Blick wieder senkte. Zögernd ging Yriontey zurück zum Kamin, um seine Arbeit wieder aufzunehmen.
Als er später einmal mitten in seinem Lautenspiel aufsah, bemerkte er, daß sie nicht mehr an ihrem Platz saß. Auch im restlichen Schankraum konnte er sie nicht entdecken. Doch während seiner nächsten Pause reichte der Wirt ihm einen Zettel, auf dem in schwungvoller, klarer Schrift stand: Ihr behauptet, daß Ihr Euch in dieser Gegend auskennt. Ich hoffe, Ihr schließt dabei die nahe Wüste ein. Wenn dem so ist und Ihr Euer Angebot ernst gemeint habt, so bitte ich Euch, morgen bei Sonnenaufgang abreisefertig zu sein. Unterschrieben war der Brief lediglich mit einem schwungvollen C.

Gnadenlos glühte die Mittagssonne auf den Stein der Wüste nieder und schien alles Leben aus ihm herauszusaugen. Dennoch, so unglaublich es ihr auch erschien, hatte Cyrill immer wieder den Eindruck, daß selbst hier noch Wesen in den Spalten und Ritzen verborgen lebten. Die Hitze war beinahe unerträglich, und doch machte Yriontey keine Anstalten, anzuhalten und ein Lager aufzubauen.
Verstohlen blickte Cyrill hinüber zu dem Mann, der an ihrer Seite ritt. Yriontey hatte sich gegenüber dem Abend zuvor stark verändert. Statt der bunten Sängertracht trug er nun zweckmäßige Reisekleidung aus Leder und braunem Leinen, und seine Leier hatte er sorgfältig eingepackt auf den Rücken seines Pferdes geschnallt. Er wirkte nun irgendwie älter und vor allem reifer. Gestern Abend hatte sie kaum glauben wollen, daß dies wirklich Yriontey war, der wegen Majestätsbeleidigung verurteilte Sänger, auf dessen Ergreifung in seiner Heimat inzwischen ein so hoher Preis stand, daß Kopfgeldjäger auf der Suche nach ihm sogar schon bis in die Nordstädte vorgedrungen waren. Nach allem, was Cyrill wußte, hatte er über seinen örtlichen Fürsten einige nicht sehr schmeichelhafte Lieder verfaßt, nachdem dieser ihn um seinen Lohn geprellt hatte. Innerhalb kürzester Zeit sang das ganze Fürstentum diese Lieder. Das Volk stand auf Yrionteys Seite, aber der Fürst hatte das Geld und die Macht, und so hatte der Sänger es vorgezogen, seine Heimat zu verlassen und im Reich unterzutauchen. Seither hatte man nichts mehr von ihm gehört.
Was hatte ihn nun dazu bewogen, sich einer ihm völlig fremden Frau zu entdecken? Vertraute er ihr einfach so sehr, oder war das Risiko für ihn aus irgendeinem Grund kalkulierbar? Cyrill kam zu keinem befriedigenden Schluß.
Sie bemerkte, daß auch Yriontey immer wieder zu ihr hinübersah, ohne jedoch etwas zu sagen. Schon seit sie am frühen Morgen Sandend verlassen hatten, war kein Wort mehr gefallen. Sie waren einfach nur schweigend den Wüstenpfad entlanggeritten, vermutlich jeder in Gedanken über den anderen vertieft. Auf einmal erschien Cyrill diese Stille, die sie am Anfang begrüßt hatte, seltsam bedrückend. Wie um dieses Gefühl zu bestätigen hörte sie in der Ferne einen Aasvogel schreien.
Als habe er ihre Gedanken gelesen, wandte Yriontey sich ihr zu.
"Wir werden bald an einer geeigneten Stelle für ein Mittagslager sein", erklärte er ihr. "Wenn ich mich richtig erinnere ist dort in der Nähe sogar ein Wasserloch, so daß wir unsere wertvollen Vorräte nicht anbrechen müssen." Dann betrachtete er sie eine Weile nachdenklich.
"Das hier ist erst der Anfang der Wüste", bemerkte er schließlich. "Es kann sein, daß wir noch eine ganze Weile unterwegs sein werden, ehe wir Eure Freundin finden. Ich habe Euch gestern abend meinen Namen gesagt, und aus Eurer Reaktion habe ich ersehen, daß Ihr ihn kennt. Somit wißt Ihr bereits eine ganze Menge über mich, während ich von Euch noch nicht einmal Euren Namen erfahren habe."
Er zögerte ein wenig, ehe er fortfuhr: "Natürlich habe ich den Wirt befragt, und er sagte mir, Euer Name sei Cyrill. Dieser Name ist im Gegensatz zu meinem aber ziemlich nichtssagend. Es ist ein Allerweltsname, der mir nichts über Eure Herkunft, Euren Beruf und Eure Absichten mitteilt - alles Dinge, die mich eigentlich sehr interessieren würden. Ich weiß ja noch nicht einmal, ob der Name, den Ihr dem Wirt gegeben habt, überhaupt Euer wahrer Name ist."
Nachdenklich blickte Cyrill auf ihre Hände hinunter, die die goldbestickten Zügel hielten. Wieder hörte sie den Schrei des Geiers, diesmal etwas näher.
"Es ist mein wahrer Name", sagte sie dann knapp. "Zum zweiten: Ich komme von der Westküste. Drittens bin ich Jägerin, und in Sandend war ich, weil ich mich mit meiner Schwester treffen wollte, wie Ihr bereits wißt."
"Eure Schwester?" Fragend hob Yriontey seine Augenbrauen. "Gestern Abend spracht Ihr noch von Eurer besten Freundin."
"Gestern Abend habe ich Euch auch noch nicht vertraut."
Yriontey lächelte. "Ihr habt wirklich ein gesundes Mißtrauen gegen Fremde. Man könnte Euch schon fast für übervorsichtig halten - oder aber vermuten, daß da noch mehr dahintersteckt." Abrupt zügelte der Sänger sein Pferd.
"Wir sind angekommen", bemerkte er.
Cyrill blickte auf. Vor ihnen lag eine Felsformation, die sie entfernt an ein Spiel aus ihrer Kindheit erinnerte, bei dem so lange Steinchen aufeinandergeschichtet wurden, bis der Turm zusammenfiel; nur hatten hier offenbar Riesenkinder gespielt. Die Felsen boten einen guten Schutz gegen die Sonne, und in ein paar Höhlungen hatte sich vielleicht sogar noch etwas von der Kälte der Nacht gehalten.
Erleichtert stieg Cyrill vom Pferd und schnallte Rucksack und Decken los. Nach kurzer Suche hatten sie einen Überhang gefunden, unter dem sie die Pferde unterbringen konnten, und ließen sich dann selbst in einer Spalte in unmittelbarer Nähe nieder. Am Eingang befestigte Yriontey behelfsmäßig eine Decke, um den warmen Wind abzuhalten.
"Ich werde einmal nach dem Wasserloch sehen", meinte er dann.
In der Nähe hörte Cyrill den Schrei eines Geiers. "Paß auf dich auf", bat sie beunruhigt. Yriontey lächelte.
"Nur ein Aasvogel, der ein totes Tier gefunden hat." Dann schlug er die Decke zurück und trat aus der Höhlung. Ein kurzer Blick zum Himmel zeigte ihm, daß mehrere Aasgeier über etwas kreisten, das in unmittelbarer Nähe des Wasserloches sein mußte.
"Dann wollen wir mal sehen", sagte er leise zu sich selbst und machte sich auf den Weg. Nach einer Menge anstrengender Kletterei erreichte er schließlich die Stelle, an die er sich erinnerte. Lautlos schob er sich auf dem Felsen vorwärts, bis er auf die Vertiefung mit der Quelle hinunterschauen konnte. Dort sah er direkt neben dem Loch einen dunklen, formlosen Klumpen liegen, um den sich mehrere Aasvögel zu streiten schienen. Angestrengt versuchte er, mehr zu erkennen. Das Ding dort unten sah doch mehr wie ein Haufen hingeworfener Kleider aus, an dem die Geier zupften, und - alle Götter, es bewegte sich!
Mit einem Schrei sprang der Sänger auf und sprang von Fels zu Fels zur Quelle hinunter. Erschreckt stoben die Vögel auf, um dann beleidigt zeternd wieder ihr Kreisen über dem Wasserloch aufzunehmen. Yriontey hörte erst auf zu brüllen, als er das Bündel erreicht hatte. Vorsichtig kniete er daneben nieder. Es war ein Mensch, der hier auf dem Felsen lag, wie der Sänger vermutet hatte. Er wirkte geschwächt, aber nicht ausgemergelt wie ein Verhungernder. Dennoch war er bewußtlos.
Langsam drehte er den Mann um. Nun konnte er erkennen, warum der Fremde ohnmächtig geworden war: Aus einer tiefen Wunde in seiner linken Seite sickerte Blut.
"Ein bißchen weiter oben und es ware aus mit dir gewesen", flüsterte der Sänger. "Mein Freund, du hast doppelt Glück gehabt."
"Yriontey, was ist los?"
Er sah auf. Cyrill stand oben auf den Felsen. Als sie erkannte, was der Sänger hielt, kletterte sie hastig hinunter. Unten angekommen ließ sie sich auf der anderen Seite des Verletzten nieder und musterte ihn kurz. Dann riß sie sein Hemd auf und begutachtete die Wunde. Ein fleckiger Verband war darum gewickelt gewesen, war jedoch zur Seite gerutscht, und die Wunde war wieder aufgebrochen. Vorsichtig löste Cyrill das alte Tuch und warf es beiseite. Dann fiel ihr Blick auf Yrionteys Umhang. Ohne zu zögern griff sie danach und riß ein Stück heraus. Dieses tauchte sie in das kühle Quellwasser und begann damit, die Wunde vorsichtig zu reinigen.
Irritiert starrte der Sänger auf das Loch in seinem Umhang.
"Ich hoffe, du hast einen Ersatzumhang; ich brauche nämlich noch ein paar Streifen zum Verbinden", warnte Cyrill ihn vor.
Mit einem stummen Fluch löste Yriontey seinen Umhang und begann damit, ihn in handbreite Streifen zu zerreißen. Dankbar nahm Cyrill sie entgegen.
"Würdest du ihn bitte ein wenig anheben, damit ich den Verband anlegen kann? Vorsichtig..."
Ergeben folgte er ihren Anweisungen und nahm es als seine Belohnung, ihre unglaublich schlanken und geschickten Finger bei ihrer Arbeit beobachten zu dürfen. Offensichtlich war dies nicht der erste Verwundete, den sie verband.
Als Cyrill fertig war trugen sie den Verwundeten gemeinsam vorsichtig in ihren Unterschlupf und legten ihn auf ein paar weiche Decken. Dann kümmerten sie sich um ihr Mittagessen.
"Wir sollten ihn zurück nach Sandend bringen; er braucht dringend einen richtigen Arzt", meinte Cyrill während sie an einem Stückchen Trockenfleisch kaute. "Ein Tag mehr oder weniger dürfte bei dieser Suche sowieso nicht allzuviel ausmachen. Entweder schafft Kathra es noch einen Tag länger, zu überleben, oder sie ist schon tot."
Erstaunt blickte Yriontey sie an. Das klang überhaupt nicht mehr nach der besorgten Schwester vom Abend zuvor. Hatte sie das nur vorgegeben? Oder hatte sie andere Gründe für ihren plötzlichen Gesinnungswandel?
Ein Gedanke kam ihm in den Kopf; nur eine vage Vermnutung, aber wert, überdacht zu werden.
"Ich denke, du hast recht, was den Zustand des Verwundeten betrifft", meinte er etwas verspätet. "Und deine Schwester kennst du wohl selbst am besten."
Schweigend beendeten sie ihr Mahl und legten sich dann hin, um etwas zu entspannen. Als die größte Hitze vorüber war, wusch Cyrill noch einmal den Verband des Mannes aus und behandelte seine Wunde mit einer Salbe. Als sie den Verband wieder anlegte, stöhnte der Mann einmal auf, doch das Bewußtsein erlangte er nicht wieder. Sorgfältig banden sie ihn auf Yrionteys Pferd fest und machten sich dann langsam auf den Rückweg.

Es war bereits tiefe Nacht, als sie die Schatten der Häuser von Sandend sahen. Am Haus des Arztes angekommen mußten sie fast die Tür einschlagen, ehe er reagierte, doch als er den Zustand des Verwundeten sah, war er sofort hellwach. Er bot ihnen an, in seinem Haus zu übernachten, da der Wirt ebenfalls bereits schlief, und dankbar nahmen sie an. Erstaunt und etwas verlegen stellten sie fest, daß in dem Zimmer, daß der Arzt ihnen anbot, lediglich ein einziges Bett breiterer Bauart stand. Nach einer längeren Debatte gab Cyrill schließlich nach und legte sich in das Bett, während Yriontey auf dem Boden schlief.
Am frühen Morgen wurde Yriontey durch einen schrillen Hahnenschrei geweckt. Verschlafen drehte er sich herum und sah zum Bett hinüber. Cyrill lag auf der Seite, das Gesicht ihm zugewandt. Ihre Züge waren völlig entspannt, fast als würde sie lächeln. Zum ersten Mal nahm Yriontey wahr, wie schön sie eigentlich war. Ihr Gesicht erinnerte ihn an eine Elfe, und ihr Körper...
Schlaf weiter, Idiot!
Widerwillig drehte Yriontey sich wieder um und ließ sich in die Traumwelt zurückgleiten.
Sie schliefen bis in den späten Morgen hinein.
Als sie sich gerade mit kaltem Wasser wuschen kam der Arzt herein und teilte ihnen mit, daß der Verwundete aufgewacht sei und mit ihnen reden wolle. Sofort packten sie ihre Sachen zusammen und folgten ihm. Er führte sie in ein kleines Zimmer im Erdgeschoß, in dem es angenehm nach Kräutern roch. In einer Ecke stand ein schmales Bett, in dem der Verwundete lag. Als er sie sah, lächelte er schwach.
"Ich möchte Euch gerne für meine Rettung danken, aber ich weiß nicht recht wie", sagte er leise. "Mit Worten kann ich meine Dankbarkeit gar nicht richtig ausdrücken, aber ich habe auch nichts, womit ich Euch belohnen kann..."
"Daß Ihr überlebt habt ist uns Lohn genug", wehrte Yriontey ab. "Aber Ihr könntet uns erzählen, wie Ihr zu dieser Verwundung gekommen seid. Seid Ihr überfallen worden?"
Der Mann nickte schwach. "Ich hatte mich für die Reise durch die Wüste einer Gruppe von Händlern angeschlossen. Als wir am vorletzten Tag der Reise gerade dabei waren, unser Lager abzubrechen, fiel plötzlich das Wüstenvolk über uns her. Die Wächter hatten keine Chance, es waren einfach zu viele. Sie ritten einfach durch unser Lager hindurch und stachen oder ritten alles nieder, was ihnen in den Weg kam. Sie haben fast alle getötet, und die anderen haben sie verschleppt, um Lösegeld zu erpressen. Nur ich bin wie durch ein Wunder entkommen. Sie hielten mich für tot..."
Cyrill unterbrach ihn. "War vielleicht auch eine Frau in meinem Alter bei Eurer Gruppe, eine große, kräftige Schwertkämpferin mit krausem, dunklem Haar, dunkler Haut und einem schmalen Gesicht?"
Erstaunt blickte der Mann sie an. "Es war eine Frau unter den Wächtern, auf die Eure Beschreibung paßt, wenn ich auch nicht weiß, ob sie in Eurem Alter war. Die anderen nannten sie nur Tigerfrau, aber ich glaube, ihr Name war Kathra."
Cyrills Haut wurde noch eine Spur bleicher. "Was ist mit ihr geschehen?"
"Ich weiß es nicht genau; ich glaube aber, daß sie es überlebt hat. Nachdem sie einige von diesen Wüstenfüchsen erlegt hatte, hatten sie es darauf angelegt, sie lebendig zu fangen; und als die anderen Wächter erst Mal alle tot waren, ist ihnen das natürlich auch gelungen."
Betroffen wandte Cyrill sich ab. In diesem Moment meldete sich der Arzt wieder.
"Ihr solltet jetzt gehen. Es geht ihm zwar besser, aber er braucht noch immer eine Menge Schlaf für seine Genesung."
Sanft faßte Yriontey Cyrill am Arm und führte sie hinaus. Sie wirkte wie betäubt. Bei den Pferden angekommen blieb er stehen.
"Die Jerrta also", sagte er leise zu sich selber. "Ich wußte gar nicht, daß sie wieder hier im Süden sind."
Cyrill horchte auf. "Du kennst die Wüstenfüchse?"
"Ich habe einem ihrer Anführer einmal einen Gefallen erwiesen. Dafür durfte ich eine Weile mit ihnen reiten. Ich kenne fast alle ihre Gewohnheiten."
"Weißt du auch, was sie mit Gefangenen tun, die einige ihrer Kämpfer getötet haben?"
Yriontey sah sie an. "Wenn es ein Mann wäre, würden sie ihm anbieten, sich ihrem Stamm anzuschließen. Die Jerrta leben gut, und sie achten fähige Kämpfer. Wahrscheinlich haben sie sie nur mitgenommen, weil sie sie für einen Mann gehalten haben."
"Und was machen sie mit fähigen Kämpferinnen?"
Yriontey zögerte, dann zuckte er die Achseln. "Ich weiß es nicht. Und wahrscheinlich wissen sie es auch nicht. So weit ich weiß hat es so einen Fall bisher nicht gegeben."
"Du überschüttest mich mit Trost, Yriontey." Seufzend schwang Cyrill den Sattel auf ihr Pferd. "Wo können wir denn diese Jerrta finden?"
Yriontey sah sie von der Seite an. Sie hatte offensichtlich den Schock, den ihr die Mitteilung des Verwundeten gegeben hatte, überwunden, und schon wirkte sie wieder so seltsam unbeschwert.
"Die Jerrta haben viele Lager. Sie wechseln sie nach Bedarf und Laune. Man kann nie genau sagen, wo sie gerade sind."
Sie sah ihn an, und nun entdeckte er doch etwas Sorge in ihrem Blick.
"Gibt es denn keine Möglichkeit, es herauszufinden?"
Der Sänger zögerte. "Ich kenne einige ihrer Stammplätze hier in der Gegend, aber es ist mir auferlegt worden, ihre Lage niemals einem dritten zu verraten."
"Was würdest du mir schon verraten, wenn du mich durch eine mir unbekannte Wüste führst? Ohne dich hätte ich ja schon Schwierigkeiten, das Wasserloch von gestern wiederzufinden; wie sollte ich mir dann die Lage eines Lagers der Jerrta merken! Für dich mag diese Wüste vielleicht so etwas wie Wege haben - für mich ist sie nur ein Haufen durcheinandergeworfenes Gestein mit einigen großen Sandflächen dazwischen."
Nachdenklich überprüfte Yriontey seinen Sattelgurt. Was Cyrill sagte war wahr. Was für eine Gefahr konnte es für die Jerrta bedeuten, wenn er eine ortsfremde Frau zu ihrem Lager führte? Die einzige Person, für die bei diesem Unternehmen Gefahr bestand, war Cyrill selber; und Yriontey wurde das Gefühl nicht los, daß sie an so etwas gewöhnt war. Er schwang sich auf sein Pferd und sah auf die Jägerin hinunter. Ihr Haar schimmerte im Sonnenlicht.
"Cyrill Goldhaar, du hast etwas an dir, was es mir unmöglich macht, dir zu widersprechen. Also laß uns aufbrechen." Er gab seinem Pferd die Sporen.
Bei einem örtlichen Bauern kauften sie noch etwas Proviant sowie ein zusätzliches Pferd als Lasttier und damit Kathra ein Pferd hatte, falls sie sie finden und befreien sollten. Am späten Nachmittag machten sie sich schließlich auf. Diesmal wählte Yriontey einen anderen Weg. Dieser führte durch einen schmalen Streifen Geröllwüste direkt in die Sandwüste hinein. Wieder bewunderte Cyrill Yrionteys Talent, sich im Nichts zielstrebig zu bewegen. Er erzählte ihr eine Menge über die Wüste und wie man in ihr seinen Weg wiederfinden konnte, doch bezweifelte sie, daß diese Lektionen ihr tatsächlich helfen würden. Sie reiste zum ersten Mal durch die Wüste, und wenn es nach ihr ging, würde dies auch das letzte Mal sein.
Sie verbrachten die Nacht in einem kleinen Zelt. Im Gegensatz zur Hitze des Tages waren die Nächte in der Wüste empfindlich kalt, und so wickelten sie sich fest in ihre Decken. In der Nacht erwachte Yriontey. Irgendetwas stimmte nicht. Etwas drückte ihn... da bemerkte er die Quelle seines Unbehagens: Cyrill hatte sich im Schlaf an ihn herangekuschelt, wohl um sich zu wärmen. Yriontey streckte den Arm aus, um ihn um sie zu legen. Dann hielt er inne. Was tat er da? Würde sie das nicht völlig falsch interpretieren? Oder vielleicht eher richtig?
Irgendwo in seinem Unterbewußtsein schrillte eine Alarmglocke. Völlig verwirrt zog Yriontey seinen Arm wieder zurück. Was war denn nur los mit ihm? Hier lag Cyrill, eine wunderschöne und faszinierende Frau, und er wagte es noch nicht einmal mehr, seinen Arm um sie zu legen, um sie vor der Kälte zu schützen. Alle Götter, Yriontey, was ist nur mit dir los?
Verwirrt schloß er die Augen, und gnädig nahm der Schlaf ihn wieder gefangen.

Am Morgen erwachte der Sänger mißgelaunt. Er war mit sich selber uneins, doch wollte er nicht, daß Cyrill seine Unruhe bemerkte, also beschäftigte er sich schweigend mit dem Abbau des Zeltes. Cyrill brühte währenddessen über einem kleinen Feuer ein paar Teeblätter zum Frühstück auf.
"Was ist los mit dir, Yriontey?" fragte sie, als er den Zeltstoff zum dritten Mal auseinanderfaltete, um ihn neu zusammenzulegen.
"Nichts", knurrte er mißmutig.
"Der Tee ist fertig; laß doch das dumme Zelt liegen und setz dich zu mir."
Seufzend ließ er die Plane fallen und hockte sich Cyrill gegenüber auf den Boden. Ohne sie anzuschauen nahm er seinen Becher entgegen und schlürfte den Tee.
"Yriontey?"
Nun sah der Sänger auf, und Cyrill wünschte, sie hätte ihn nicht angesprochen. Etwas in seinem Blick erschreckte sie zutiefst. Die goldenen Funken, die sonst immer so fröhlich blitzten, schienen nun unruhig zu flackern, und tief hiner ihnen entdeckte sie etwas wie...Angst? Zwiespalt? Qual?
Doch schon schob sich eine unsichtbare Barriere davor, und Cyrill konnte nicht mehr erkennen, was es war.
Yriontey senkte seinen Blick wieder. Eine Weile saßen sie schweigend voreinander.
Schließlich griff Yriontey nach seiner Laute. Vorsichtig löste er das Leder, das er darum gebunden hatte. Dann legte er sich das Instrument wie eine Zither auf die Knie und zupfte eine Weile an den Saiten. Schließlich begann er, eine zarte Melodie zu spielen.
"Cyrill, sag mir, woher kommst du wirklich?"
Cyrill antwortete wie im Traum. "Von der Westküste, wie ich gesagt habe. Aber ich stamme nicht aus einem der dortigen Fürstentümer, sondern von den Feuerinseln, die niemandem gehören."
Yriontey spielte leise weiter.
"Warum bist du von dort weggegangen?"
"Wenn ich geblieben wäre, hätte ich gegen die Gesetze verstoßen müssen. Also zog ich es vor, zu gehen." Warum erzählte sie ihm das nur alles?
"Hast du viele Freunde verloren, als du gehen mußtest?"
"Ich hatte nur wenige Freunde auf den Feuerinseln, und diejenigen, die ich hatte, verließen die Inseln mit mir."
"Kathra?"
Cyrill nickte.
"Sie ist deine Blutsschwester, nicht wahr? Deshalb wußtest du immer, daß sie noch lebt und nicht in unmittelbarer Gefahr ist."
Wieder nickte Cyrill.
Yrionteys Finger blieben auf den Saiten liegen. Die Musik verhallte, doch in Cyrills Kopf spielte sie weiter.
"Cyrill." Des Sängers Stimme klang ein wenig heiser. "Sag mir, hattest du einen Liebsten dort auf den Inseln?"
Cyrill zuckte zusammen, und mit einemmal wurde ihr Denken wieder klar. Eine scheußliche Dissonanz blieb in ihrem Kopf hängen. Ungläubig starrte sie Yriontey an.
"Warum fragst du mich das?" sagte sie leise.
"Warum fragst du da noch?" echote der Sänger.
Etwas krampfte sich in Cyrill zusammen. Warum interessierte sich Yriontey wohl dafür, ob sie einen Liebsten hatte? Es war wirklich eine dumme Frage gewesen...
Unvermittelt stand der Sänger auf und wandte sich ab. Er bückte sich nach der Lederhülle und band sein Instrument sorgfältig wieder darin ein. Dann rollte er den Zeltstoff endgültig zusammen und schnallte ihn auf dem Packsaattel fest.
Unterdessen hatte Cyrill stumm das Feuer gelöscht, die Becher mit Sand ausgewischt und sie in ihrem Packen verstaut.
"Wir werden heute Abend den ersten möglichen Lagerplatz der Jerrta erreichen", bemerkte Yriontey. "Es ist eine alte Ruinenstadt, deren Brunnen noch immer Wasser enthält. Es ist ein guter Lagerplatz."
Schweigend sattelten sie ihre Pferde und saßen auf. Als Cyrill gerade ihr Pferd antreiben wollte, griff Yriontey ihr in die Zügel. Sie sah ihn an.
Sein Blick hatte sich wieder beruhigt. Selbst die goldenen Sprenkel hatten das Funkeln wieder aufgenommen, wenn es jetzt auch eher traurig und nachdenklich wirkte.
"Es tut mir leid", sagte er leise.
"Was tut dir leid?"
"Was ich vorhin getan habe. Ich tue das normalerweise nicht einfach so. Ich weiß nicht, welcher Dämon mich da geritten hat..."
Cyrill sah wieder geradeaus und zuckte die Achseln. "Ich finde es beruhigend, zu wissen, daß ich einen echten Barden in meiner Begleitung habe; das mag sich noch als hilfreich erweisen. Im übrigen habe ich dir nichts verraten, was ich dir nicht auch gesagt hätte, wenn du normal gefragt hättest. Nur hätte ich dann vielleicht etwas länger gezögert."
Yriontey nickte. "Als du mir nicht mehr antworten wolltest, da hast du keine Probleme gehabt, dich aus dem Bann der Melodie zu lösen. Meine Fragen haben mehr neue Fragen aufgeworfen als ich Antworten erhalten habe."
Cyrill lächelte schwach. "Aber frage mich ab jetzt bitte erst normal, bevor du deine Fähigkeiten strapazierst. Wir könnten deine Kraft noch für wichtigeres brauchen." Sie ruckte kurz am Zügel und trieb ihr Pferd an.

Sie erreichten die Ruinenstadt am frühen Abend. Kein Jarrt hatte sie unterwegs aufgehalten, und so waren sie nicht erstaunt, den Ort verlassen vorzufinden.
Staunend sah Cyrill sich um. Die Stadt schien riesig gewesen zu sein, wenn man bedachte, daß der Großteil wahrscheinlich unter dem Sand der Wüste verborgen war. Es gab hier ein paar Pflanzen, die das Vorrücken der Dünen etwas aufhielten, doch über kurz oder lang würden wahrscheinlich auch die letzten Spuren dieser alten Kultur vom Sand überrollt werden.
Yriontey hatte es vorgezogen, den Platz erst einer kurzen Untersuchung zu unterziehen, bevor sie sich hier für die Nacht niederließen. Bei seiner Rückkehr wirkte er sehr zufrieden.
"Die Jerrta sind noch vor wenigen Tagen hiergewesen", berichtete er ihr.
Cyrill sah ihn an. "Woher weißt du das?"
Er zeigte ihr ein Geflecht aus kleinen Zweigen, das er vorher in der Hand verborgen gehalten hatte.
"Das ist eines ihrer Geheimzeichen. Diejenigen, für die es bestimmt war, haben es zurückgelassen in dem Bewußtsein, daß nur ein Jarrt oder ein guter Freund des Wüstenvolkes seine Bedeutung erkennen kann."
"Und was sagt es?"
"Wenn ich mich nicht sehr irre teilt es den Empfängern mit, daß das neue Lager zwei Tagesreisen weiter im Norden und etwas weiter östlich liegt. Ich glaube, ich kenne den Platz. Er liegt an einer Quelle, die wesentlich ergiebiger ist als das Brunnenloch hier. Es gibt dort sogar ein paar Bäume, aber auch eine Menge Schlangen und Skorpione. Wenn wir morgen schon vor Sonnenaufgang aufbrechen, könnten wir es innerhalb von einem Tag schaffen. Unsere Pferde sind wesentlich schneller als die mit ihrem Hab und Gut und den großen Zelten beladenen der Jerrta. Außerdem müssen einige von ihnen auch zu Fuß gehen, weil sie sonst nicht genug Packtiere haben."
"Du willst im Dunkeln durch die Wüste reiten? Sagtest du nicht einmal, das sei sehr gefährlich?"
"Wir haben fast Vollmond, und die Nächte sind sternklar. Das müßte den Pferden an Licht reichen. Außerdem gibt es in dieser Gegend soweit ich weiß kaum Gefahren für einen ortskundigen Wanderer, und ich kenne den Weg gut genug, um ihn wenigstens ein Stück weit auch im Halblicht zu finden."
"Und wenn die Jerrta bei unserem Eintreffen schon wieder weitergezogen sind?"
"Dagegen sprechen zwei Gründe: Erstens ist diese Nachricht bestenfalls zwei Tage alt, und zweitens steht ein Vollmondfest an, das einiger Vorbereitungen bedarf; das heißt, daß die Jerrta das Lager wohl erst nach dem Vollmond wieder wechseln."
Cyrill wirkte erstaunt. "Die Jerrta sind Mondanbeter?"
"Oh, sie sind da sehr diplomatisch. Sie beten sowohl zu Charrkis, dem Löwen, dessen Gestirn die Sonne ist, als auch zu Londru, der Schlange, die zum Mond gehört. Sie sind der Auffassung, daß beiden Seiten Ehre gebührt, und hoffen, auf diese Weise von Charrkis Schutz und von Londru Verschonung zu erlangen. Alles in allem ist ihre Religion recht kompliziert, da die Jerrta immer sehr auf Gleichgewicht bedacht sind, um die Vorteile beider Seiten genießen zu können."
Cyrill mußte lächeln. "Eine schwierige Aufgabe für ein einfaches Wüstenvolk, könnte ich mir denken."
Doch Yriontey blieb ernst. "Unterschätze die Jerrta nicht. Sie sind kein "einfaches Wüstenvolk". Sie haben für alles sehr genaue und komplizierte Regeln, vom ehrenhaften Kampf bis zur Zubereitung der Mahlzeiten. Es gibt sogar Regeln darüber, wie man sich liebt..." Yriontey stockte und wandte sich ab.
"Wir sollten das Nachtlager aufbauen."
Sie sattelten die Pferde ab und bauten zwischen zwei schützenden Wänden ihr Zelt auf. Als die Sonne unterging entfachten sie ein kleines Feuer und machten sich eine heiße Suppe und anschließend etwas Tee, um gegen die aufziehende Kälte der Nacht gewappnet zu sein. Als Cyrill sich gerade eine zweite Tasse einschenkte, hob Yriontey ihren Umhang auf und blickte ihn nachdenklich an. Dann hängte er ihn sich über den Kopf und schien auszuprobieren, wie er sich damit am besten erwürgen könnte.
"Willst du dich zur Tarnung als Mumie verkleiden?" fragte Cyrill belustigt. Yriontey wickelte sich den Umhang wieder vom Kopf und schaute lächelnd zu ihr auf.
"Ich suche gerade eine Lösung für ein kleines Problem, das dich betrifft. Ich habe allerdings den Eindruck, daß du dich lieber selber damit befassen solltest, bevor ich mich noch unfreiwillig vom Leben zum Tod befördere."
Sein warmes Lachen tat Cyrill gut. Es schien, als habe er sich von dem Schock über seine eigene Handlungsweise vom Morgen endlich erholt. Sie selber hatte die Ausübung seiner Magie nicht als so schlimm empfunden wie er; dafür hatte sie die Offenlegung seiner Gefühle um so mehr erschreckt und verwirrt, auch wenn sie sich bemüht hatte, dies nicht zu zeigen. Sie wußte nicht so recht, wie sie reagieren sollte. Sie konnte ihm die Wahrheit nicht sagen ohne ihn zu verletzen, und das wiederum wollte sie auf keinen Fall.
"Was ist das für ein Problem?"
Yriontey hielt ihren Umhang hoch. "Du wirst dir hiermit irgendwie eine Art Gesichtsschleier herstellen müssen. Bei den Frauen der Jerrta ist das so üblich, und wenn man von einem Volk etwas will, sollte man sich seinen Sitten anpassen."
Zögernd griff Cyrill nach dem Stoff. "Und was wäre, wenn ich keinen Schleier tragen würde?"
"Die Jerrta würden dich für eine Hure halten und entsprechend behandeln. Ich glaube, das würde weder dir noch mir gefallen."
Verlegen sah Cyrill zu Boden. Dann legte sie sich das Tuch über den Kopf und hielt einen Teil vor ihre untere Gesichtshälfte. "Würde es so reichen?"
Yriontey nickte.
Nun versuchte Cyrill, einen Weg zu finden, wie sie das Tuch auf dem Kopf und vor dem Gesicht so befestigen konnte, daß es nicht bei jeder Bewegung wieder herunterrutschte. Yriontey machte ebenfalls ein paar Vorschläge, und ein paar Mal legte er auch mit Hand an. Ihr Hauptproblem bestand darin, daß sie weder eine Gewandnadel noch sonst irgendetwas besaßen, womit sie den schweren Stoff befestigen konnten. Schließlich brachten Yrionteys geschickte Finger es fertig, ihr den Stoff auf eine solchen Weise um den Kopf zu legen und zu binden, daß Haar, Nase und Mund bedeckt waren und Cyrill dennoch gut Luft bekam. Erleichtert drehte sich Cyrill einmal um sich selbst, damit der Sänger sein Werk von allen Seiten betrachten konnte.
"Du bist das schönste Wüstenmädchen, daß ich jemals gesehen habe", bemerkte er bewundernd.
Cyrill spürte, wie sich etwas wie Stolz in ihr regte. Sie hatte noch kaum Komplimente von einem Mann bekommen; in ihrer Heimat war es nicht üblich, Komplimente zu machen, und hier auf dem Festland hatten die meisten in ihr nur die Jägerin und Kämpferin gesehen, nur selten eine anziehende Frau. Auch entsprach sie mit ihrer blassen Haut und ihrer schlanken, fast jungenhaften Figur nicht gerade dem gängigen Schönheitsideal.
Vorsichtig nahm sie sich den Umhang vom Kopf und betrachtete ihn genau von allen Seiten.
"Ich könnte mir das nicht merken", gestand sie dann. "Ich hoffe, du hast es dir eingeprägt, denn ich brauche meinen Umhang heute Nacht als zweite Decke."
Yriontey nickte. "Was meine Finger einmal getan haben, daran erinnern sie sich auch ein zweitesmal. Das ist das Geheimnis meiner Kunst. Habe ich ein Stück einmal gespielt, vergesse ich es nicht mehr, denn meine Finger finden die Töne danach von selber wieder."
Cyrill sah ihn an und lächelte. "In Sandend war ich zu unruhig, um deine Kunst geniessen zu können. Würdest du jetzt nur für mich noch einmal spielen?"
Einen Moment hielt der Sänger den Atem an, dann nickte er und griff nach seiner Laute. Wie schon am Morgen löste er langsam die Umhüllung und zog sie vorsichtig heraus. Wieder fiel Cyrill auf, wie liebevoll, ja fast zärtlich er mit dem Instrument umging. Sanft legte er es sich in den Schoß und strich einmal quer über die Saiten. Trotz glühender Hitze und klirrender Kälte hatte sich keine einzige verzogen. Zum erstenmal fiel Cyrill auch die kunstvolle Einlegearbeit auf, die das ganze Instrument überzog. Sie stellte Ranken und Blätter dar, in die kleine Zeichen einer fremden Schrift eingewoben schienen.
"Sie ist wunderschön", bemerkte Cyrill bewundernd.
Yriontey lächelte. "Ihre Schönheit schien mir lange Zeit unübertrefflich."
Dann begann er zu spielen, und diesmal spielte er für sie ganz allein. Hier waren keine Dörfler, die nur an Heldensagen und lustigen Balladen interessiert waren, und keine Fürsten, die stets nur ihr eigenes Loblied hören wollten. Er war mitten in der Wüste, alleine mit einer Frau, die etwas in ihm wiedererweckt hatte, das er schon für tot gehalten hatte; und das war es, was er in diesem Moment seine Finger lenken ließ. Er hatte das Gefühl, so gut zu spielen wie nie zuvor.
Cyrill übergab sich dem Zauber der Laute und ließ sich treiben. Doch dies hier war kein zwanghafter Zauber, keine echte Magie; es war die reine Magie der Töne, die Faszination der Melodie, der Zauber wunderschöner Musik, mit dem sie sich treiben ließ. Einen herrlichen Moment hatte sie das Gefühl, ihre Seele löse sich aus ihrem Körper und gleite davon; doch dann sank sie langsam wieder zurück, sah sich selber in der Wüste an einem kleinen Feuer sitzen und beobachtete, wie Yriontey seinen letzten Akkord anschlug und verhallen ließ.
Einen Moment saß sie nur stumm da und lauschte auf die in ihrem Inneren fortklingenden Töne. Dann sah sie auf, und ihre klaren Augen begegneten denen des Sängers.
"Hat es dir gefallen?"
Sie suchte nach Worten und fand keine. Schließlich nickte sie nur stumm.
"Die Melodie ist mir schon seit jenem Abend im Gasthaus von Sandend im Kopf herumgegangen", erklärte Yriontey, "und an jedem Tag unserer Reise ist noch ein Stück dazugekommen. Es hat lange gedauert bis ich begriffen habe, daß ich mit diesem Lied dich beschreiben wollte, oder besser, wie du in meinen Augen bist."
Sie sah ihn groß an. "Kein menschliches Wesen kann so schön sein wie diese Musik!"
"Ein weiser Mann hat einmal gesagt: Die Schönheit liegt im Auge des Betrachters. Lange Zeit habe auch ich geglaubt, daß es für mich nichts Schöneres geben könne als meine Laute und ihre Musik. Aber in den letzten Tagen habe ich etwas gefunden, was beides übertrifft."
Cyrill sagte nichts, und so legte Yriontey sein Instrument wieder zur Seite und rollte seine Decke aus. Als er sich wieder aufrichtete, saß Cyrill immer noch genauso da wie vorher und starrte in die Glut des erlöschenden Feuers.
"Cyrill?"
Verwirrt blickte sie auf. "Ja?"
"Schläfst du schon mit offenen Augen?"
Sie wandte ihr Gesicht wieder dem Feuer zu. "Ich... ich mußte an Kathra denken", erklärte sie zögernd. "Ich habe das Gefühl, daß sie sich in Gefahr befindet." Dann sah sie wieder auf. "Yriontey, was könnten sie nur mit ihr vorhaben?"
Sofort wurde der Sänger ernst. "Cyrill, ich weiß es wirklich nicht. Ich kenne viele ihrer Regeln und auch ein paar ihrer Geheimnisse, aber wie sie in diesem Fall entscheiden werden... Allerdings bin ich mir recht sicher daß, falls sie noch lebt, vor dem Vollmond kein Entschluß mehr über sie gefaßt werden wird. Das gibt uns noch mindestens zwei Tage Zeit."
Cyrill stand auf. Sie wirkte nur wenig beruhigt.
"Ich habe Angst, daß wir irgend etwas sehr wichtiges übersehen haben. Mein Gefühl hat mich noch nie getrogen, und im Moment besagt es, daß Kathra sich vor irgend einer Bedrohung fürchtet; und Kathra fürchtet sich so leicht vor nichts."
Sanft nahm Yriontey sie bei den Schultern und drehte sie zu sich herum.
"Cyrill, es nützt jetzt auf jeden Fall nichts, sich Sorgen zu machen. Wir können nicht schneller sein als unsere Pferde uns tragen, und das muß eben ausreichen. Wir tun alles, was in unserer Macht steht, um Kathra zu befreien."
Cyrill blickte auf, und er sah die Angst in ihren Augen. Noch ehe er selber recht wußte, was er tat, nahm er sie in seine Arme. Sofort versteifte sie sich, doch dann gab sie nach und lehnte ihren Kopf einen Moment lang erschöpft an seine Schulter. Schließlich jedoch streifte sie seine Arme sanft ab und löste sich aus seiner Umarmung. Ohne noch etwas zu sagen breitete sie ihre Decke aus und rollte sich darin ein. Einen Moment zögerte Yriontey, dann riß er die noch glühenden Kohlen auseinander und folgte ihrem Beispiel.

Gemeinsam ritten sie über eine grüne Ebene. Yriontey hielt die Zügel, und sie saß vor ihm, zwischen seinen sehnigen Armen, und lehnte sich an seine Brust. Sie kamen an einen wundervollen See, und Yriontey brachte das Pferd zum Stehen. Er schwang sich hinunter, dann hob er sie aus dem Sattel und legte sie ins Gras. Sie spürte, wie er sich neben sie legte, sie in seinen Arm nahm und küsste...
Schweißbedeckt schreckte Cyrill hoch. Sie braucht einen Moment, ehe sie in die Realität zurückfand. Dann blickte sie auf Yriontey hinunter, der fest in seine Decken eingerollt neben ihr lag. Er schien fest zu schlafen, und ein Lächeln lag auf seinen Lippen, das von angenehmen Träumen herzurühren schien.
Konnte es sein, daß seine Magie so mächtig war, daß sie sie in seine Träume hineinzog? Oder hatte ihre eigene Magie ihr diese Bilder beschert? Waren es Bilder aus ihrer Zukunft oder gar ihrem Unterbewußtsein? Träume darüber, wie es hätte sein können?
Sie war sich sicher, daß Yriontey sie zu lieben glaubte, und daß er sie früher oder später bitten würde, bei ihm zu bleiben. Was sollte sie ihm dann sagen? Die Wahrheit? Oder besser ein Lügengespinst? Oh Kathra, ich wünschte, du wärst hier...
Ihre Gedanken jagten sich; doch um zu verhindern, daß Yriontey durch ihre Unruhe geweckt wurde, legte sie sich wieder auf ihre Decke. Fast sofort beruhigte sich der Gedankenstrom, und der Körper setzte sein Recht auf Schlaf gegen ihren aufgewühlten Geist durch.

Yriontey weckte sie lange vor Sonnenaufgang. Verschlafen fragte sich Cyrill, wie er es fertiggebracht hatte, so früh von selber wach zu werden. Aber sie hatten sich gestern Abend zeitig schlafen gelegt, und seine Nachtruhe war wohl nicht durch irgendwelche Träume gestört worden.
Während Yriontey den Tee zubereitete, absolvierte Cyrill ihre allmorgendlichen Kampfübungen. Langsam lösten sich ihre verkrampften Muskeln. Sie bemerkte, daß der Sänger ihre geschmeidigen Bewegungen mit Bewunderung in den Augen beobachtete und wollte bereits aufhören, als sie sich selber einen Narren schalt. Sie brauchte diese Übungen, um ihre volle Einsatzfähigkeit zu erhalten, und davon durfte sie sich durch nichts abhalten lassen. Womöglich ging es heute noch um Kathras Leben.
Sofort nachdem sie den Tee getrunken hatten, packten sie alles zusammen und machten sich auf den Weg. Die Pferde schienen nichts dagegen zu haben, sich in der frostigen Kälte bewegen zu müssen, und so kamen sie schneller voran, als Cyrill erwartet hatte. Das silberne Licht des Mondes erleuchtete die Wüste so hell, daß Yriontey den Weg nicht ein einziges Mal verlor, und als er schließlich unterging, kündete ein breiter Lichtstreifen im Osten bereits den Aufgang der Sonne an. Sie ritten ohne Unterbrechung bis die Sonne ihren höchsten Stand erreicht hatte, und auch dann gönnten sie sich und den Pferden nur eine Pause von zwei Stunden, die sie unter ihren angefeuchteten Decken im Sand liegend verbrachten.
"Wir dürften demnächst auf die ersten Wachtposten der Jerrta stoßen", verkündete Yriontey nach der Mittagspause. "Sie werden uns wahrscheinlich noch nicht ansprechen, sondern lediglich unser Kommen ankündigen. So sorgen sie dafür, daß wir bei unserer ersten Begegnung auch ein paar Kämpfer im Rücken haben."
Mit flinken Fingern verknotete er Cyrills Umhang wieder zu einem Gesichtsschleier ehe sie aufbrachen.
Yrionteys Voraussage sollte sich bewahrheiten. Sie sahen bereits in der Ferne die ersten Büsche der Oase, ehe eine berittene Gestalt in einem dunklen, weiten Gewand auf einer der Dünen neben dem Weg auftauchte. Sofort zügelte Yriontey sein Pferd und bedeutete Cyrill, sich hinter ihm zu halten. Dann wandte er seine Aufmerksamkeit ganz dem dunklen Reiter zu. Der Jarrt schine sie ebenfalls zu beobachten. Schließlich trat er sein Pferd in die Seiten und galoppierte den Hügel hinunter, direkt auf sie zu. Yriontey rührte sich nicht. Kurz vor einem Zusammenprall riß der Wüstenmann die Zügel so heftig nach hinten, daß das Pferd ein wenig in die Knie ging. Doch es schien solche Behandlung gewohnt zu sein, denn sofort stand es wieder regungslos auf der Stelle.
"Ich grüße dich, Yriontey" sagte der Fremde laut.
Yriontey neigte leicht den Kopf.
"Auch ich grüße dich, Nartaj, Kriegsherr der tapferen Jerrta."
Das hier war also der Anführer der berüchtigten Wüstenfüchse. Cyrill betrachtete ihn unter ihrem improvisierten Schleier hervor genauer. Er war ganz in ein weites, wallendes Gewand aus dunklem, schwerem Stoff gehüllt, das in der Mitte von einer breiten Stoffschärpe zusammengehalten wurde, in der zwei Krummsäbel steckten.
Sie konnte nur wenig von seinem Gesicht sehen, da es von einem Tuch beschattet wurde, das er zum Schutz vor der Sonne auf dem Kopf trug, doch das, was sie sah, deutete auf Stolz und Härte hin. Doch sie konnte keine Grausamkeit in seinen Zügen entdecken, höchstens vielleicht ein wenig Verschlagenheit.
Als würde er ihre Blicke spüren wandte er sich ihr zu. Weiße Zähne blitzten in seinem dunklen Gesicht auf, als er seinen Mund zu einem kurzen Grinsen verzog.
"Wer ist das da. mein Freund?"
"Sie gehört mir", erklärte der Sänger eine Spur schärfer als nötig.
Nartaj sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an. "Der große Sänger Yriontey hat seinen Sinn für die Reize der Frauen entdeckt? Du hättest unsere schönsten Mädchen haben können, allen voran meine eigene Schwester, doch du hast sie alle abgelehnt. Was mag das wohl für eine Blume des Westens sein, die es geschafft hat, dich zu binden?" Neugierig und abschätzend musterte er sie. Cyrill spürte, wie ihr das Blut in die Wangen stieg; sie wußte selber nicht recht ob aus Zorn oder Scham. Aber sie war zum ersten Mal froh über den Schleier, der ihr Gesicht vor ihrem Gegenüber verbarg.
Schließlich wandte Nartaj sich wieder Yriontey zu, und er grinste.
"Wie auch immer: Seid willkommen in meinem Lager und meinem Zelt."
Yriontey wirkte erleichtert, und Cyrill begriff, daß es diese Formel war, die ihnen den Schutz des Gastrechtes verschaffte. Deshalb war der Sänger wohl auch so wachsam geworden, als der Kriegsherr der Jerrta sie nicht gleich auf diese Weise begrüßt hatte.
Sie trieben ihre Pferde an. Yriontey und Nartaj ritten voraus, und Cyrill folgte mit dem Packpferd in einem Abstand, der es ihr gerade noch erlaubte, das Gespräch der Männer mitzuhören. Nartaj sprach im Moment.
"Als du uns vor zwei Jahren verlassen hast, erwarteten wir nicht, dich jemals wiederzusehen, Sänger. Jeleva und ihre Freundinnen haben lange um dich getrauert. Als ein Wächter mir meldete, du seist auf dem Weg hierher, wollte ich es zunächst nicht glauben. Doch Serraj ist ein zuverlässiger Mann, und so machte ich mich selber auf den Weg, um dich willkommen zu heißen. Ich muß allerdings gestehen, daß die Anwesenheit der Frau mich kurz irritierte..."
"Geht es Jeleva gut?" Yriontey versuchte, die Frage, die unausweichlich kommen mußte, möglichst lange herauszuzögern.
"Jeleva? Oh ja, sie ist jetzt Hartakis Frau. Er hat ihr sofort zwei Kinder gemacht, und jetzt ist sie aufgequollen wie ein Schwamm, nichts mehr für einen Mann wie dich. Das erste Kind war eine Tochter, und Hartaki war richtig wütend. Er wollte sie schlagen, da hat sie ihn mit einer Zeltstange verprügelt. Seither liebt er sie noch mehr als zuvor. Das zweite Kind war dann ein Junge, und seither verhätschelt er sie so sehr, daß sie aufgegangen ist wie Kuchenteig. Aber er hat jetzt ja auch keinen Grund mehr sie zu schlagen..." Nartaj lachte laut.
Cyrill lauschte verwundert Nartajs Erzählungen. Einerseits schien eine Frau hier ziemlich wenig eigenen Willen zu haben, andererseits konnten sie ungestraft ihre Ehegatten verprügeln. Verständnislos schüttelte sie den Kopf. In ihrer Heimat wäre weder das eine noch das andere möglich gewesen.
Unvermittelt wurde Nartaj wieder ernst. "Aber jetzt sag mir, was dich hierhergeführt hat, Yriontey." In seiner Stimme lag nun etwas von der Autorität, die er als Stammesführer hatte.
Yriontey seufzte. "Ich würde das lieber über einer Tasse Tee mit dir bereden."
"Hat es etwas mit deiner Frau zu tun?"
Diesmal mußte Yriontey lachen. "Du kennst mich einfach zu gut, Nartaj; vor dir kann ich nichts geheimhalten."
Inzwischen hatten sie die ersten Ausläufer der kleinen Oase erreicht, in der die Jerrta ihre Zelte aufgeschlagen hatten. Einige Männer und eine Menge Frauen und Kinder kamen ihnen aufgeregt schnatternd entgegen und begleiteten sie ins Lager. Cyrill zählte die Zelte. Es waren wesentlich weniger als sie erwartet hatte. Zwei darunter zeichneten sich besonders aus. Beide standen unmittelbar an der Quelle und schienen größer zu sein als die anderen, doch das eine war naturfarben, das andere hingegen so dunkel wie der Stoff, aus dem die Jerrta-Krieger ihre Gewänder herstellten, und vor dem Zelt war ein Pfahl in den Boden gerammt, an dem sich eine Schlange empor zu winden schien.
Nartaj führte sie zu dem hellen Zelt. Sie stiegen von den Pferden und überließen sie ein paar dunkelhätigen Jungen, die versprachen, sich um sie zu kümmern. Sie sprachen einen seltsamen, rauhen Dialekt, den Cyrill kaum verstehen konnte. Nartaj hingegen sprach sauber und klar. Sie fragte sich, bei wem er das gelernt hatte.
Im Inneren des Zeltes war es angenehm kühl. Eine Teekanne und drei Tassen warteten bereits auf sie. Nartaj ließ sich auf einem der Kissen nieder und bot ihnen je eines zu seiner Rechten und seiner Linken an. Yriontey trat auf das zu seiner Linken zu und zog Cyrill mit sich. Gehorsam setzte sie sich neben ihn auf den Boden. Nartaj lächelte.
"Du hast keine unserer Sitten vergessen, eh? Du hast gut daran getan, deine Frau sich verschleiern zu lassen, denn die Frauen meines Volkes hätten bestimmt wenig Verständnis für eure fremden Sitten gezeigt, und die Männer wären womöglich noch auf falsche Gedanken gekommen. Aber ich habe lange genug unter den seßhaften Menschen gelebt, um nichts Anstößiges an einem nackten Gesicht zu finden. Sie kann daher das Tuch gerne abnehmen, bevor die Hitze sie umbringt."
Fragend blickte Cyrill Yriontey an, doch er zuckte nur die Schultern. Er überließ die Entscheidung ihr. Sie spürte, wie ihr der Schweiß das Gesicht hinunterlief, und das beschleunigte ihren Entschluß. Erleichtert riß sie sich den Umhang vom Kopf. Einen kurzen Moment blitzten Nartajs Augen auf, als ihr blondes Haar auf ihre Schultern herabfiel. Cyrill war zu sehr mit sich beschäftigt, doch Yriontey war die Reaktion des Jerrta nicht entgangen. Er verfluchte sich selber, daß er nicht an Cyrills Haar gedacht hatte, und nahm sich vor, ab jetzt besser aufzupassen.
Scheinbar gleichgültig schenkte Nartaj nun Tee in die Tassen und bot sie ihnen an. Yriontey gab eine an Cyrill weiter, ehe er sich selber eine nahm. Den Regeln entsprechend begann er erst zu trinken, als Nartaj seinen Becher halb geleert hatte. Den ersten Becher leerten sie schweigend. Dann reichte Nartaj ihnen eine Schale mit getrockneten Früchten, ehe er die Tassen wieder füllte. Schließlich wandte er sich Yriontey zu.
"Also, mein Bruder, was führt dich nun nach all den Jahren zu mir?"
Yriontey wählte seine Worte vorsichtig. "Wie du bereits erraten hast, hängt der Grund für mein Kommen mit... meiner Frau zusammen. Und wie du wahrscheinlich ebenfalls erraten hast, wollen wir dich um etwas bitten."
Interessiert beugte sich Nartaj vor. "Und was für einen Preis würdet ihr zahlen?"
Einen kurzen Moment flackerte sein Blick zu Cyrill, doch kehrte er sofort zurück.
Yrionteys Stimme wurde eine Spur eisiger. "Du schuldest mir noch einen Gefallen, Bruder."
Nartaj hob die Hände. "Das ist Auslegungssache", sagte er mit einem schiefen Grinsen. "Aber laß uns zum Thema kommen. Um was wollt ihr mich bitten?"
Yriontey öffnete den Mund, doch Cyrill kam ihm zuvor.
"Gebt meine Schwester Kathra frei."
Zornig drehte sich der Sänger um, doch etwas in ihren Augen ließ ihn innehalten. Irritiert wandte er sich wieder Nartaj zu. Der Anführer der Jerrta musterte sie beide mit halbgeschlossenen Augen. Seine Stimme klang gefährlich weich.
"Ich wiederhole noch einmal: welchen Preis seid ihr bereit, zu zahlen?" Diesmal war die Frage nicht an Yriontey gerichtet. Nartaj sprach mit Cyrill.
Die Jägerin sagte nichts, senkte nur den Kopf.
Unvermittelt öffnete Nartaj die Augen wieder. Ein bedauerndes Lächeln zog über sein Gesicht.
"Unglücklicherweise bin ich ein Ehrenmann, und außerdem hat Yriontey recht: ich schulde ihm noch etwas, denn ein Leben ist unbezahlbar. Ich muß gestehen, daß ich Euch in dieser Sache leider nicht helfen kann, so verlockend Euer Angebot auch ist, doch Eure Schwester ist nicht mehr in meiner Hand."
Erschrocken starrte Cyrill ihn an. "Aber wie ist das möglich?" Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.
Nartaj zuckte die Achseln. "Wir wußten nicht so richtig, was wir mit dieser kriegerischen Frau anstellen sollten, die ein halbes Dutzend unserer besten Krieger ausgeschaltet hatte. Ich hätte sie ja in meinen Harem aufgenommen, aber obwohl ich mir wünsche, einmal im Bett zu sterben, denke ich dabei doch an eine andere Todesart und vor allem einen späteren Zeitpunkt. Ich halte mich für zu jung zum Sterben." Er lachte kurz auf, wurde dann aber sofort wieder ernst. "Schließlich forderten die Schlangenpriester sie. Londrus Priester haben einen großen Einfluß auf mein Volk, und so konnte ich es ihnen nicht abschlagen, besonders, da einige Männer bereits murrten, wie es angehen könne, daß eine Hexe ungestraft unsere Männer tötete. Sie glaubten tatsächlich, daß dabei Magie im Spiel gewesen sei... wie auch immer, ich mußte ihnen die Kämpferin übergeben. Ich wußte zunächst gar nicht, was sie mit ihr vorhatten, aber inzwischen ahne ich etwas, und das gefällt mir gar nicht. Es stört das Gleichgewicht zwischen den Göttern..."
"Menschenopfer!" Yriontey rief es ungläubig. Cyrill wurde kreidebleich.
Nartaj nickte nur.
"Bist du dir sicher?"
"Was sonst sollten sie von ihr wollen? Alle Zeichen deuten darauf hin, sogar der Lagerplatz, den sie für das Vollmondfest gewählt haben. Ungefähr eine Wegstunde nördlich von hier ist ein verfallener Tempel der Schlangengöttin, dessen Wände noch von der Macht der alten Priester getränkt sind. Seit über einem Jahrhundert sind ihr dort nur noch Hammel und gelegentlich ein Pferd geopfert worden. Was glaubst du winkt demjenigen ihrer Priester für ein Preis, der ihr zum erstenmal wieder das Blut anbietet, das ihr am besten schmeckt?"
Stumm nickte Yriontey.
"Wir müssen sie befreien." Cyrills Stimme klang heiser.
Nartaj wurde steif. Angestrengt starrte er auf seine Hände hinunter.
"Ihr solltet so etwas nicht in meiner Gegenwart sagen", mahnte er sie mit bewußt neutraler Stimme. "Ihr plant gerade, das Gastrecht zu brechen. Ich als derjenige, der euch aufgenommen hat, darf das nicht zulassen."
"Dann könnt Ihr uns wirklich nicht helfen?"
Einen Moment lang flackerte Haß in Nartajs Augen auf. Dann antwortete er ruhig: "Nein, schöne Goldblume, ich kann und darf nicht die Hand gegen meine Stammesbrüder erheben; selbst wenn ich ihre Handlungen nicht billige."
Yriontey nickte. Er verstand Nartajs Worte, sowohl die gesprochenen als auch die unausgesprochenen.
"Wo können wir unterkommen?"
"Das Zelt meines Onkels ist frei; er ist im letzten Monat ehrenvoll gefallen, und seine Frau ist zu Jeleva gezogen. Ich habe es für euch aufstellen lassen."
Nartaj bedeutete Cyrill, ihren Schleier wieder überzuziehen. Als sie fertig war, klatschte er zweimal kurz in die Hände, und ein kleiner Junge kam herein, um sie zu ihrem Zelt zu führen.
Inzwischen war es Abend geworden. Die Sonne schickte sich bereits an, hinter dem Horizont zu verschwinden. In weniger als einer Stunde würde am östlichen Himmel der Mond erscheinen.
In ihrem Zelt angekommen fanden sie alles vor, was sie auf den Pferden gelassen hatten. Cyrill rollte ihre Decke aus und warf sich mutlos darauf. Yriontey setzte sich neben sie.
"Du darfst jetzt nicht den Mut verlieren, Cyrill", sagte er leise.
Cyrill schnaubte. "Nicht den Mut verlieren! Wir wissen noch nicht einmal, wo sie Kathra gefangen halten, und selbst wenn wir sie finden und befreien sollten, haben wir den ganzen Jerrta-Stamm auf dem Hals!"
"Da irrst du dich."
"Aber du hast ihn doch gehört! Wir verletzen das Gastrecht, wenn wir gegen die Schlangenpriester vorgehen!"
"Ich habe gehört, was Nartaj gesagt hat, aber im Gegensatz zu dir habe ich alles gehört. Ich kenne ihn recht gut, und ich bin mir sicher, daß er es im Stillen begrüßen würde, wenn wir die Macht der Schlangenpriester ein wenig beschneiden, indem wir ihnen ein auserwähltes Opfer wegschnappen und vielleicht nebenbei noch ein paar von ihnen ankratzen. Wenn sie ihn schon so weit unter Druck setzen können, daß er ihnen eine Gefangene für ein Menschenopfer übergeben muß, ist ihr Einfluß für ihn entschieden zu groß. Sollten wir Kathra befreien, tun wir ihm also gewissermaßen einen Gefallen. Wir können dafür keine aktive Unterstützung von ihm erwarten, aber er wird stillhalten und uns gewähren lassen, solange wir kein Aufsehen erregen und hinterher sofort verschwinden."
Unglaubig sah Cyrill ihn an. "Wie kannst du dir da so sicher sein?"
Yriontey grinste. "Nartaj und ich haben zusammen Musik gemacht in den Ländern außerhalb der Wüste. Damals war er ein Ausgestoßener, genau wie ich, und wir hatten viel Spaß zusammen. Im ersten Moment war ich mir nicht sicher, ob er noch derselbe war wie damals, aber jetzt bin ich es. Außerdem, hätte er ernsthaft vor, uns an unserem Vorhaben zu hindern, dann hätte er uns eine Ehrenwache vor die Nase gesetzt, die jeden unserer Schritte kontrolliert hätte."
Cyrill setzte sich auf. "Und was jetzt?"
"Was schlägst du vor?"
"Als erstes sollten wir herausfinden, wo sie Kathra gefangen halten." Sie zögerte kurz, dann fuhr sie fort: "Ich bin mir ziemlich sicher, daß sie nicht hier im Lager ist; das würde ich spüren. Sie ist weiter weg, aber nicht sehr weit. Eine Stunde Fußmarsch vielleicht."
Yriontey zog die Augenbrauen hoch. "Ich habe nie geahnt, daß die Blutsbruderschaft der Bewohner der Feuerinseln so ein starkes Spüren beinhaltet."
"Die Stärke hängt vom magischen Potential sowohl der Betroffenen als auch dessen, der sie schließt, ab. Aber zurück zum Thema. Wo könnten sie Kathra hingebracht haben?"
"In die Tempelruine."
"Das denke ich auch. Daß Nartaj uns gesagt hat, wo der Tempel liegt, scheint mir auch eine ganz gute Bestätigung dieser Vermutung zu sein." Yriontey nickte.
"Wir sollten die Nacht abwarten, ehe wir etwas unternehmen. Und dann wird unser erstes Problem sein, unbemerkt an den Wachen vorbei zu kommen. Kannst du schleichen?"
"Ich war in meiner frühen Jugend bei einem Dieb in der Lehre", erwiderte Yriontey. "Und du?"
"Ich bin Jägerin", antwortete Cyrill schlicht.
Dann kam die Zeit des Wartens. Sie lagen auf ihren Decken und versuchten, sich zu entspannen. Doch immer wieder wanderten Cyrills Gedanken zu Kathra, und Yrionteys Gedanken zu Cyrill. Langsam wurde es draußen dunkel, aber der Lärm im Lager ließ nur langsam nach.
"Cyrill?" Yriontey hatte sich zu ihr umgedreht und sprach sie leise an.
"Was ist, Yriontey?"
"Es gibt eine Frage, die du mir immer noch nicht beantwortet hast."
"Welche Frage?" Cyrill wußte genau, welche er meinte.
"Ich habe dich gefragt, ob du einen Geliebten hast."
Eine Weile blieb Cyrill stumm. Das war der Moment, den sie gefürchtet hatte; aber sie hatte ihm an jenem Morgen eine Antwort versprochen.
Da sprach Yriontey wieder, mit ruhiger, eindringlicher Stimme. "Cyrill, du weißt, warum ich das frage. Du weißt, daß ich dich liebe und dich bitten möchte, bei mir zu bleiben. Du weißt das und kannst dir denken, was ich noch alles sagen könnte oder möchte und jetzt unausgesprochen lasse. Aber du sollst auch eines wissen: Als ich gestern abend davon sprach, daß ich etwas gefunden hätte, daß schöner sei als meine Musik, da habe ich nicht nur dich gemeint. Ich habe auch das gemeint, was du mir in diesen Tagen geschenkt hast: Nämlich die Gewissheit, doch noch lieben zu können."
Yriontey setzte sich auf, und Cyrill sah, wie er etwas Sand aufnahm und fest mit seiner Hand umschloß. Doch je fester er drückte, um so schneller rieselten die Sandkörner zwischen seinen Fingern hindurch. Schließlich öffnete er die Hand wieder: sie war leer.
"Die Liebe war für mich stets wie eine Handvoll Sand. Je fester ich sie zu halten versuchte, um so schneller entglitt sie mir wieder. Und als ich am Tag der Flucht aus meiner Heimat feststellen mußte, daß die Frau, die ich damals liebte, mich an die Kopfgeldjäger verraten hatte, schwor ich der Liebe für immer ab. Sie machte mich verletzlich, und ich fürchtete nichts so sehr wie Verletzlichkeit. Natürlich hatte ich immer wieder Frauen, aber sie waren nichts, nur Statisten, meistens junge Dorfmädchen, die ich hinterher als heulendes Häufchen Elend zurückließ. Es machte mir nichts aus. Ich versteckte mich hinter meinem Zynismus und meiner Musik, und ihre Liebe erreichte mich dahinter nicht. Aber dann warst du da, und irgend etwas an dir zog mich an. Du schienst mir so sehr Frau und doch anders als die anderen Frauen zu sein. Du gabst mir Rätsel auf, und während mein Verstand noch damit beschäftigt war, sie zu lösen, hatte mein Herz sich klammheimlich aus seiner Vereisung gelöst und drängte sich wieder ins Leben. Und auf einmal war mir klar, daß die Liebe es wert ist, trotz aller Fehlschläge die Suche nicht aufzugeben; selbst dann nicht aufzugeben, wenn auch du mich ablehnst..."
Einen Moment verstummte er. Dann suchte er Cyrills Blick. Sie hatte sich inzwischen ebenfalls aufgesetzt, doch in der Dunkelheit konnte er ihr Gesicht nicht erkennen.
"Cyrill, ich möchte dir sagen, daß ich, egal, wie deine Entscheidung ausfällt, dir dafür immer dankbar sein werde. Du hast einen Teil von mir für das Leben gerettet."
Zögernd hob Cyrill ihre Hand und strich ihm sanft über die Wange. Ihre Hand war kalt, aber weich. Zart legte er seine Hand auf ihre und hielt sie fest.
"Yriontey..." Ihre Stimme versagte. Sie versuchte es noch einmal. "Yriontey, ich würde dir so gerne mehr geben, aber ich kann nicht..."
"Dann bist du bereits gebunden?"
Sie zögerte kurz, dann nickte sie.
"Und du liebst ihn?"
Wieder Zögern.
"Willst oder kannst du die Bindung nicht lösen?"
"Beides."
Traurig ließ Yriontey ihre Hand wieder los. Tief in seinem Inneren hatte er es die ganze Zeit gewußt, und darum traf es ihn nicht so hart, wie er erwartet hatte. Trotzdem tat es weh.
Er spürte, wie eine Träne sich langsam ihren Weg über seine Wange bahnte. Unwillig wischte er sie ab.
"Wir müssen uns jetzt auf den Weg machen."
Leise schnürten sie ihre Sachen zu zwei festen Bündeln zusammen, die sie sich auf den Rücken banden. Yriontey steckte sich ein paar Wurfdolche in den Gürtel, während sich Cyrill Bogen und Köcher umschwang. Die Pfeile umwickelte sie sorgfältig, damit sie nicht klapperten. Schließlich legte sie noch ihren Schwertgurt an. Dann verließen sie vorsichtig das Zelt. Kein einziger Jarrt schien mehr wach zu sein, und so erreichten sie die Pferde unbemerkt. Als sie zu ihren Tieren vordrangen, wurden die anderen unruhig, doch niemand reagierte. Sie banden ihre Bündel fest und führten ihre Tiere an den Rand der Herde. Es gab keinen Zaun und keinen Wächter; die Pferde der Jerrta waren gut dressiert.
Schließlich machten die beiden sich auf. Sie schlichen sich zum nördlichen Rand der Oase. Bis hier hin reichte noch das Lager; ab jetzt konnten sie entdeckt werden. Lautlos bewegten sie sich weiter.
Sie entdeckten zwei Wachtposten auf ihrem Weg; Yriontey vermutete, daß sie mindestens zwei weitere passiert hatten, ohne sie zu bemerken. Hoffentlich beruht das auf Gegenseitigkeit, dachte er grimmig. Diesmal war der Mondschein nicht ihr Freund; aber die Tatsache, daß keiner der Wächter erwartete, daß jemand aus dem Lager herausschleichen würde, glich das wieder aus. Der Rückweg würde wesentlich schwieriger werden.
Dann waren sie über die nähere Umgebung des Lagers hinaus, und Yriontey atmete erleichtert auf. Dennoch bewegten sie sich weiterhin vorsichtig. Einige hohe Dünen kreuzten ihren Weg, und der Sänger betete, daß es alte, feste Dünen waren, über die man gut hinüberklettern konnte. Sein Gebet wurde offenbar erhört.
Als sie gerade den höchsten Punkt der ersten Düne erreicht hatten, ließ Yriontey sich plötzlich fallen und zog Cyrill mit sich.
"Was ist los?" zischte sie unwillig. Wortlos deutete Yriontey nach Osten.
Eine Reihe dunkler Gestalten zog dort mit Fackeln über eine Düne, und ihr Ziel lag eindeutig im Norden. Panik flackerte in Cyrills Augen auf.
"Ich dachte, das Vollmondfest sei erst morgen Nacht!"
"Ich verstehe es auch nicht. Vielleicht gibt es noch zu viele Gegner von Menschenopfern unter den Jerrta, als daß sie es öffentlich vollziehen könnten, und sie haben sich daher entschloßen, ihre Macht schon vor den Zeremonien ein wenig aufzustocken. Dann könnten sie morgen bei der Feier mehr Eindruck schinden. Auf jeden Fall hat die Sache aber den Vorteil, daß uns diese netten Leute da vorne direkt zu Kathra hinführen werden."
Mühsam schluckte Cyrill ihre Angst herunter und nickte knapp.
Gemeinsam machten sie sich wieder auf den Weg. Es war kein Problem, der nächtlichen Prozession zu folgen, da sie sich recht langsam durch den Sand bewegte. Die Teilnehmer schienen sich in Meditation zu befinden, und ihr Anführer sang immer wieder ein paar Strophen, auf die die restlichen Männer dann antworteten. Es waren insgesamt zehn Männer: ein Hohepriester, vier normale Priester und fünf Krieger, die ihnen offenbar zu ihrem Schutz mitgegeben worden waren. Cyrill fragte sich, wie sie gegen diese Übermacht ankommen sollten.
Schließlich überschritten sie eine letzte, relativ niedrige Düne, in deren Schutz Yriontey und Cyrill liegen blieben, während die Prozession sich weiter nach unten bewegte. Ein faszinierender Anblick bot sich ihnen. Am Fuß der Düne ragte ein Ruinenkomplex aus der Düne, ähnlich der Ruinenstadt, in der sie am Vortag gelagert hatten; doch schien es sich hier ganz offensichtlich um einen Tempel gehandelt zu haben. Nirgendwo waren mehr Dächer, und auch die Wände standen nur noch bruchstückhaft, und so konnten sie ungehindert alle Teile des Gebäudes einsehen. Der Hauptraum war weitgehend vom Sand befreit, und Cyrill erkannte eine Art Altar, hinter dem eine Stange ähnlich der im Lager aufgepflanzt war, nur war diese um vieles größer. Doch etwas schien zu fehlen - es wand sich keine Schlange darum.
Als die Priester und ihre Begleiter den Tempel erreichten, verstummte der Gesang. Die Bewaffneten reihten sich mit ihren Fackeln längs der Wände auf, und mit einer Handbewegung schickte der Anführer zwei seiner Priester fort. Cyrill beobachtete, wie sie einen der anderen Räume betraten und dort etwas vom Boden emporzuheben schienen. Eine Falltür, natürlich! Sie stiegen hinunter, und es dauerte eine Weile, ehe sie wieder heraufkamen. Als sie die Falltür wieder schlossen konnte Cyrill erkennen, daß sie nun eine dritte Gestalt in einem einfachen dunklen Gewand mit sich führten. Die Jägerin musterte sie genau. Es war unzweifelhaft Kathra. Wie eine Puppe ohne eigenen Willen ließ sie sich von den beiden Priestern führen.
Zorn wallte in Cyrill auf.
"Diese Schweine haben sie unter Drogen gesetzt", knirschte sie.
Beruhigend legte Yriontey seine Hand auf ihren Arm.
Sie beobachteten, wie die Priester die betäubte Kämpferin in den Hauptraum führten. Zufrieden nickend begann der Hohepriester mit einem weiteren Gesang.
Sofort fielen die Priester ein. Währenddessen wurde Kathra quer durch den ganzen Hauptraum bis zum Altar geführt. Dort ließen die Priester sie neben ihrem Oberen stehen. Als wolle er sie einem ungesehenen Betrachter zeigen drehte dieser sie einmal um sich selbst. Dann drückte er sie auf die Schultern. Widerstandslos sank sie mit dem Rücken zum Altar auf die Knie. Eine ekstatische Note kam in den ununterbrochenen Gesang der Priester.
Lautlos zog Cyrill einen Pfeil aus ihrem Köcher. Sie hörte, wie Yriontey neben ihr etwas flüsterte, und plötzlich hatte er seine Laute in der Hand. Cyrill konnte sich nicht erinnern, daß er sie mitgenommen hatte, doch das erschien ihr jetzt unwichtig.
"Wir müssen warten, bis sie den Höhepunkt der Zeremonie erreicht haben; dann ist die Verwirrung am Größten, wenn wir angreifen." Der Sänger war sich nicht sicher, ob Cyrill ihn überhaupt gehört hatte, doch sie nickte.
Der Hohepriester zog gerade einen schwarzen Dolch aus seinem Gewand. Cyrill legte den Pfeil auf. Irritiert bemerkte Yriontey, daß er ganz aus Silber zu bestehen schien.
Nun wandte der Hohepriester sich der leeren Stange zu und hob den Dolch hoch über seinen Kopf, der fehlenden Schlange entgegen. Sofort hielten die Priester in ihrem Singsang inne. Der Hohepriester begann, eine neue Beschwörung zu intonieren. Langsam spannte Cyrill ihren Bogen. Yriontey hielt in jeder Hand einen Wurfdolch.
Nun schien der Priester den Dolch symbolisch mit Sand zu reinigen, um ihn dann wieder seiner Göttin zu präsentieren. Schließlich drehte er sich wieder zu seinen Untergebenen um, packte Kathras Haar und zog ihren Kopf sanft in den Nacken.
Sirrend durchschnitt Cyrills Pfeil die Luft und bohrte sich hungrig in den Hals des Schlangenpriesters. Er gab ein kurzes Röcheln von sich, dann stolperte er und sank in die Knie. Der Dolch fiel aus seiner kraftlosen Hand.
Ehe die Priester recht begriffen hatten, was geschehen war, hatten zwei von ihnen bereits Wurfdolche in ihren Leibern. Sofort ließ Yriontey zwei weitere folgen. Diesmal verfehlte jedoch einer sein Ziel. Der Sänger fluchte leise.
Auch Cyrill hatte sofort nachgeladen und mit absoluter Zielsicherheit einen weiteren Pfeil in den Körper des Hohepriesters gejagt. Der Aufprall warf ihn rückwärts gegen den Altarstein, an dem er nun langsam hinunterrutschte. Kathra kniete noch immer und starrte mit verständnislosen Augen auf die Szene vor ihr. Mit dem nächsten Pfeil machte Cyrill einen der auf sie zustürmenden Krieger kampfunfähig. Dann wollte sie den Bogen schon wegwerfen und zum Schwert greifen, als sie plötzlich aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahrnahm, wo keine sein durfte.
"Alle Götter", stöhnte sie auf.
Es schien, als sei die Stange plötzlich lebendig geworden, oder... nein, ein schattenhafter Leib schien sich darum zu schlängeln, der langsam sich verdichtende Leib einer monströsen Schlange.
Cyrill hörte, wie Yriontey zu singen begann. Es war ein ruhiger Gesang, der ihre Gegner verwirrt und unentschlossen machen sollte. Ohne zu Zögern sprang sie von der Mauer und stürmte an den desorientierten Kriegern vorbei. Noch immer kniete Kathra dort, genau vor diesem wahnsinnigen Ding...
Cyrill erkannte, daß sie es so nicht rechtzeitig schaffen konnte. Ihr klares Denken setzte wieder ein, und erzwungen ruhig zog sie einen weiteren Silberpfeil aus ihrem Köcher, legte ihn auf, spannte den Bogen und wartete, wartete, wartete, bis sich das Ding materialisiert hatte und seinen Kopf von der Stange hob. In diesem Moment schoß sie. Sie wartete das Ergebnis ihres Schußes nicht ab, sondern schickte sofort den nächsten Pfeil hinterher, und noch einen, und noch einen.
In diesem Moment hörte sie einen schrillen Schrei, der sie erstarren ließ. Dann folgte ein anschwellendes Brüllen, wie von einem ausbrechenden Vulkan. Kopflos stürzte sie vorwärts, auf den Tempel zu. "Kathra! Kathra!"
Als sie die Mitte des Hauptraumes erreicht hatte, erhob sich die Kämpferin langsam und verwirrt. Sie schien noch immer etwas von der Droge benebelt, doch als sie Cyrill sah wurde ihr Blick sofort wieder klar. Sie hörte das Brüllen hinter sich und sah sich um.
Die Schlange hatte sich von der Stange gelöst und wand sich nun am Boden. Ein Pfeil hatte ihren Kopf durchbohrt, zwei weitere ihren Körper. Wild und unkontrolliert schlug sie ihren Schwanz in ihren Todeszuckungen gegen alles, was ihr im Weg stand. Sofort erfaßte die Kämpferin die Gefahr, in der sie sich befand und zog sich eilig zurück, ohne das Wesen auch nur einmal aus den Augen zu lassen. Schließlich stand sie neben ihrer Schwertschwester, die ihren Rückzug gedeckt hatte, einen Pfeil abschußbereit auf der Sehne. Nun ließ Cyrill den Bogen sinken und sah Kathra an. Die Kämpferin war schmaler geworden, und ihre Locken wirkten matt, doch schien sie nichts von ihrer Energie verloren zu haben.
Erleichtert drückte Cyrill sie an sich. Kathra erwiderte den Druck. Dann reichte Cyrill ihr das mitgebrachte Schwert, und im Laufschritt verließen sie den Tempel. Inzwischen war es unheimlich still geworden.
Yriontey stand hoch aufgerichtet auf der kleinen Düne und sah den heranstürmenden Blutsschwestern entgegen. Um ihn verstreut lagen die Kämpfer am Boden. Cyrill traute ihren Augen nicht.
"Sie schlafen nur", erklärte Yriontey. "Aber ein oder zwei Priester sind entkommen. Wir müssen uns sputen, wenn wir das Lager vor ihnen erreichen wollen."
"Kathra, das ist Yriontey. Yriontey, Kathra."
Schweigend musterten die beiden einander.
"Freut mich, dich kennenzulernen", meinte Kathra schließlich. Ihre Stimme klang noch immer ein wenig rauh.
"Die Freude liegt ganz auf meiner Seite. Aber jetzt laßt uns hier verschwinden."
Sie kehrten auf dem Weg zurück, den sie gekommen waren, nur bewegten sie sich jetzt, da sie das Gelände kannten, wesentlich schneller voran. Schließlich kamen sie in die Nähe der Stelle, an der sie den äußersten Wächter bemerkt hatten. Hier bedeutete Yriontey den beiden Frauen, zurückzubleiben und auf ihn zu warten. Allein schlich er weiter zum Lager. Cyrill nutzte die Zeit seiner Abwesenheit, um Kathra alles über ihre Rettung zu berichten. Es gab jedoch ein paar Dinge, die sie dabei ausließ. Ich werde ihr ein andermal davon erzählen, wenn wir mehr Zeit haben...
Nach nur einer halben Stunde war Yriontey wieder zurück. Er führte die Pferde am Zügel und gab sich offenbar keine Mühe, unbemerkt zu bleiben. Fragend blickte Cyrill in sein ernstes Gesicht.
"Nartaj hat mich bei den Pferden erwartet", erklärte er. "Er hat alle Wachen nördlich des Lagers mit der Anweisung fortgeschickt, nach dem Ursprung eines mörderischen Schreis zu suchen, den man hier vor etwa einer Stunde gehört hat."
Ein Schauer überlief Cyrill, als sie an den Todesschrei der Schlange dachte.
"Sie werden die schlafenden Kämpfer dort finden; vielleicht begegnen sie sogar schon vorher den überlebenden Priestern. Nartaj gibt uns vier Stunden Vorsprung, ehe er die Jagd auf uns eröffnen wird."
"Vier Stunden in einem uns unbekannten Terrain sind nichts!" ächzte Kathra.
Yriontey hob abwehrend die Hand. "Ich kenne das Gelände nahezu so gut wie ein Jarrt, und es ist fast Vollmond, das heißt, wir können nachts reiten. Ich glaube nicht, daß wir Schwierigkeiten haben werden, ihnen zu entkommen."
Sie machten sich auf. Sie ritten die ganze Nacht durch, tränkten am Morgen ihre Pferde aus den Wasserschläuchen und rasteten erst, als sie die Ruinenstadt erreicht hatten. Hier erneuerten sie ihre Wasservorräte und verbrachten die Zeit der Mittagshitze im Schatten der verfallenen Gemäuer. Yriontey verwendete viel Zeit darauf, ihre Spuren innerhalb der Ruinenstadt zu verwischen und ein paar falsche herzustellen. Dann wand er dicke Stoffetzen um die Hufe der Pferde, um ihre Abdrücke schwerer erkenntlich zu machen. So vorbereitet ritten sie weiter nach Süden. Auch am Abend gönnten sie sich nur eine kurze Rast. Schließlich erreichten sie gegen Mitternacht das Wasserloch, an dem sie damals den Verwundeten gefunden hatten. Cyrill fragte sich, warum Yriontey diesen Weg eingeschlagen hatte und nicht den, auf dem sie zum Jerrta-Lager gelangt waren. Die Erklärung ließ nicht lange auf sich warten.
"Ich werde mich morgen von euch trennen", eröffnete Yriontey plötzlich, als sie gerade ihr spätes Abendbrot verschlangen. "Cyrill kennt den Weg von hier aus, und es ist die beste Taktik um die Jerrta zu verwirren, falls sie uns noch auf den Fersen sind."
Wie betäubt starrte Cyrill ihn an. "Wo willst du hingehen?"
"Ich werde weiter nach Süden reiten. Ich wollte sowieso dorthin, und es wäre unsinnig für mich, jetzt noch bis nach Sandend zurück zu reiten. Wenn ihr morgen losgeritten seid, werde ich eure Spuren ein Stück weit verwischen, und mit etwas Glück werden sie annehmen, ihr wärt in die gleiche Richtung geritten wie ich."
"Und was ist wenn sie dich schnappen?" warf Kathra ein.
Yriontey lächelte. "Ich glaube, meine Beziehungen zu den Jerrta sind noch immer gut genug, um zu einem kleinen Handel zu kommen. Notfalls könnte ich mich ja bereiterklären, eine ihrer Töchter zu heiraten..." Er zwinkerte mit den Augen. Aber Cyrill spürte, daß auch ihm die Entscheidung nicht leicht gefallen war. Wenn er sich jetzt von ihnen trennen würde, würden sie sich aller Wahrscheinlichkeit nach nie mehr wiedersehen. Doch Cyrill versuchte nicht, ihn zurückzuhalten, und Yriontey bat sie nicht, mit ihm zu kommen.
Kathra spürte, daß etwas wie Trauer in der Luft lag, und obwohl Cyrill versuchte, ihre Gefühle vor ihrer Blutschwester geheim zu halten, war ihr Band doch zu intensiv als daß Kathra nicht zumindest eine Ahnung von dem bekam, was zwischen dem Sänger und der Jägerin geschehen war. Liebevoll legte sie ihre Hand auf Cyrills Arm und drückte ihn kurz. Schließlich legten sie sich alle schlafen.

Cyrill und Kathra brachen sofort nach dem Frühstück auf. Der Abschied von Yriontey war kurz, und als sie ihr Pferd antrieb, fühlte sich Cyrill plötzlich, als würde sie nicht nur vor den Jerrta fliehen. Dennoch gestattete sie sich nicht ein einziges Mal, zurückzusehen. Nach fast einer Stunde durchbrach schließlich Kathra das Schweigen.
"Er hat sich in dich verliebt, nicht war?" Ihre Stimme klang besorgt.
Cyrill nickte. Kathra lenkte ihr Pferd näher an Cyrills und strich ihr zärtlich über die Wange. Cyrill sah sie an und lächelte.
"Hast du ihm davon erzählt?"
"Ich habe ihm nur gesagt, daß ich bereits anderweitig gebunden sei. Ich war mir nicht sicher, ob er verstehen würde..."
"Daß du dich mehr zu Frauen hingezogen fühlst als zu Männern?" Kathra dachte einen Moment nach. "Doch, ich glaube fast, daß er es verstanden hätte", erwiderte sie dann. "Vielleicht hat er es sogar geahnt, als er uns zusammen gesehen hat."
Cyrill lehnte sich zu Kathra hinüber, und sie gaben sich einen zarten Kuß. Dann trieben sie ihre Pferde weiter an und galoppierten auf Sandend zu.





[Verena]