Das Walroß bist Du
Ein Kriminalroman von Helmut König

Kapitel 24





Kapitel 24: Am andren Ende der Stadt



Ich bin, wo der Eichelhäher
zwischen den Zweigen streicht,
einem Geheimnis näher,
das nicht ins Bewußtsein reicht.

Seit Kommissar Widemann den Namen von Kleists Kneipe erwähnt hatte, gingen mir diese Zeilen nicht mehr aus dem Kopf. Sie stammten aus einem Gedicht von Günter Eich, und ich dachte daran, daß mit einem Eich-Gedicht ja auch unser ganzes Abenteuer angefangen hatte. In den ereignisreichen Tagen danach waren vier Menschen ermordet worden. Und im Moment sah es so aus, als ob Gustav Kleist hinter all diesen Gewalttaten stecken könnte.
Jedenfalls wollte die Wolfenbütteler Kripo ihn dringend sprechen. Widemann war inzwischen schon in den Streifenwagen zurück gegangen. Er sprach über Funk mit seinen Kollegen in Braunschweig, um Informationen auszutauschen. Während dessen befragte Theo Schneider noch einmal Aaron ganz ausführlich zu Kleists Besuch heute. Diana war ins Haus gegangen, und Lisa stand bei mir. Sie sagte:

„Meinst du, wir können Diana schon alleine lassen? Sie ist doch ziemlich mitgenommen.“

„Wieso alleine? Wo wollen wir denn hin?“

„Na, mit zu Kleist, natürlich! Ich muß wissen, was er mit Malchen gemacht hat!“

„Das überlaßt ihr besser uns.“

Theo war mit Aarons Befragung fertig und hatte den letzten Satz gehört. Jetzt baute er sich vor Lisa auf und versuchte, eindrucksvoll zu wirken.

„Mein Chef glaubt sowieso, daß ihr euch zu sehr in die Ermittlungen einmischt. Da fehlt nur noch, daß ihr uns hier in die Quere kommt.“

„Dein Chef kann wohl kaum verhindern, daß ich die Gastwirtschaft unseres Nachbarn besuche. Und zwar, wann immer ich will!“

Aaron wollte Lisa von ihrem Plan abbringen, aber sie zeigte sich uneinsichtig. So stiegen wir drei in mein Auto und fuhren dem Streifenwagen hinterher.
Lisa war ganz aufgeregt und redete ohne Pause. Für sie stand fest, daß Kleist Malchens Mörder war. Das erschreckte sie jedoch nicht, sondern machte sie nur furchtbar wütend. Sie ließ uns wissen, was sie mit ihm anzustellen gedachte, sollte sie ihn erst in die Finger bekommen. Ich war durch ihre Erregung so beeindruckt, daß ich gar nichts dazu sagte. Aaron gab zu bedenken, daß schließlich noch nichts bewiesen wäre, doch sie wischte seine Einwände einfach beiseite. Schließlich schwieg auch er. Ich schob eine CD in den Spieler, und Peter Freiberg füllte die Stille:

Ich hab mich durchgerungen durch ein paar harte Jahre
Mit Jobs, die heute keiner mehr will
Dann hab ich mich verliebt in deine roten Haare
An einem kalten Tag im April
Oh, wir brauchten soviel Zeit
Du warst 'ne ganze Ewigkeit
Immer irgendwo am andren Ende der Stadt

Lisa nutzte die erste Pause, die Freiberg machte, und schimpfte munter weiter:

„Wäre ich doch nur früher zurück gewesen! Ich hätte ihm die Augen ausgekratzt!“

„Wenn man bedenkt: Wir hatten ihn ja praktisch schon. Aber anstatt ihn festzuhalten, haben wir ihn weggejagt.“

„Ihr Holzköpfe!“

„Aber Lisa, wie sollten wir denn wissen, ...“

„Ach was! Hättet ihr euch doch denken können, daß da irgendwas nicht stimmte.“

Obwohl das ja nun vollkommener Unsinn war, fühlte Aaron sich wohl ein bißchen schuldig. Er versuchte, Lisa abzulenken, indem er beschrieb, wie Rollo Kleist umgeworfen hatte. Lisa wunderte sich darüber, daß er plötzlich so freundlich über den Hund sprach, wo er ihn doch vorher gar nicht leiden konnte. Im Nu war sie dabei, ihm auch daraus einen Strick zu drehen, und Aaron befand sich schon wieder in der Defensive. Ich dachte mir, daß Kleist, sollte er in seiner Kneipe sein, bestimmt nicht zu beneiden war. Wenn Aaron schon – ungerechterweise – so viel abbekam, wie würde es ihm dann erst ergehen?
Doch eigentlich interessierte mich das alles wenig. Ich wäre viel lieber zur Bank gefahren als in den „Eichelhäher“. Aber ohne Theos Hilfe würde ich da keine Chance haben. Vielleicht konnte ich später mit ihm reden und ihn überzeugen, mit mir das Bankhaus Seeliger aufzusuchen.
Kleist hin oder her, das wirklich Wichtige war ja wohl der Faust!
Lisa riß mich aus meinen Gedanken. Sie rief mir zu, links in einen Feldweg einzubiegen. Das wäre eine Abkürzung und würde uns schneller ans Ziel bringen als die Polizisten. Ich wußte zwar nicht, wozu das gut sein sollte, und der Weg sah auch nicht gerade vertrauenerweckend aus, aber im Moment war es nicht ratsam, der Frau zu widersprechen. Also bog ich ab. Meine Vorbehalte erwiesen sich sofort als richtig, denn wir wurden ordentlich durchgerüttelt. Aaron sagte:

„Ach, übrigens: Theo und sein Chef sind sich inzwischen ganz sicher, daß alle Morde von einem Täter begangen wurden.“

„Sag bloß!“

„Ja, bei Malchen hat man nämlich wieder einen Zettel mit einer Nachricht gefunden.“

„Das fällt dir erst jetzt ein? Was stand denn drauf?“

„Moment, ich hab den Text hier. Theo hat mir eine Abschrift gemacht. Soll aber Widemann nicht wissen. Also verplapper dich gleich nicht.“

„Nein, nein. Lies schon vor!“

Aaron wollte gerade anfangen, da rief Lisa dazwischen:

„Wir sind da! Mist! Da kommt auch schon der Streifenwagen. Warum bist du auch nicht schneller gefahren!“

Ich ließ das unkommentiert und parkte den Wagen. Lisa rannte sofort zum Eingang der Kneipe, Aaron ihr hinterher. Aber die Polizisten waren auch schon ausgestiegen, und Widemann hielt die beiden auf.

„Tut mir leid, Sie bleiben erst mal draußen. Wir wissen schließlich nicht, wie der Verdächtige reagiert.“

Er schickte Theo zum Hintereingang und ging selbst vorne hinein. Wir blieben weisungsgemäß vor der Tür stehen, Lisa nicht ohne zu murren. Als eine Weile lang nichts weiter passierte, konnten wir sie aber nicht länger zurückhalten. Wir gingen also auch hinein, allerdings doch ein wenig langsam und vorsichtig. Was würde uns drinnen erwarten?


Jedenfalls nicht Herr Kleist, das sahen wir sofort, nachdem wir den Gastraum betreten hatten. Von ihm war weit und breit nichts zu sehen. Auch seinen Sohn konnte man nicht entdecken.
Widemann und Schneider standen an der Theke und redeten mit einer Frau.
Diese Frau war das, was man wohl eine „stattliche Person“ nannte. Ihre äußerst stabile Erscheinung wirkte trotz aller Fülle jedoch keineswegs schwammig, sondern machte einen sehr resoluten Eindruck. Genauso waren ihre Bewegungen, während sie redete. Resolut, aber dabei durchaus elegant und geschmeidig. Sie schien eher gutmütig zu sein, doch ich war sicher, sie könnte auch einmal eine härtere Gangart einschlagen, sollte es erforderlich sein. Mit ihren üppigen Formen schaffte sie es spielend, an der Theke den Platz einzunehmen, den auf der ihr gegenüberliegenden Seite Widemann und Schneider beanspruchten. Insgesamt entsprach sie genau dem Bild, das ich von einer 'Frau Wirtin' hatte, und das war sie auch, denn ich hörte, wie sie über Kleist als ihren Schwiegervater sprach.
Anscheinend war schon geklärt, daß der sich nicht im Haus befand, sonst hätte sie bestimmt nicht so von ihm geredet. Sie nannte ihn einen alten Zausel, der es nicht lassen konnte, den Daumen auf der Wirtschaft zu halten und seinem Sohn („dem Schwächling“) in allem reinzureden.
Widemann fragte nach Kleists Verbindung zur Familie Burckhardt. Sie antwortete:

„Es hat mir natürlich leid getan, was mit Hannes passiert ist. Aber ich sag Ihnen ganz ehrlich: Ein bißchen war ich auch erleichtert, weil damit die Kungelei der beiden aufhörte. Ich hab mir andauernd Sorgen gemacht, daß ihre Geschäfte noch einmal Unglück über uns alle bringen werden.“

„Wissen Sie da Genaueres?“

„Nee, kann ich nicht mit dienen. War immer ein großes Geheimnis, was die zwei zu erledigen hatten.“

„Und mit dem Tod von Burckhardt war das dann vorbei?“

„Nee, eben nicht. Jetzt hat der Alte alleine weiter gemacht. Ständig kamen hier Männer von auswärts vorbei, kannte ich alle nicht. Und dann gab's jedesmal Wichtiges zu bereden. „Geschäfte“, hat er gesagt. Wenn Sie mich fragen, ziemlich zweifelhafte Ge chäfste. Hoffentlich ist er da diesmal nicht an den Falschen geraten.“

„Und heute ist er auch in solchen 'Geschäften' unterwegs?“

„Weiß ich nicht. Wir haben ihn seit gestern nicht mehr gesehen. Da wollte er nach Braunschweig.“

Widemann bemerkte erst jetzt, daß wir das Lokal betreten hatten und interessiert dem Gespräch lauschten. Er drehte sich zu uns um und murmelte etwas von polizeilichen Ermittlungen, die wir störten.
Deshalb suchten wir uns einen Tisch im hinteren Teil des Raumes und setzten uns. Frau Wirtin redete weiter, doch wir konnten nun nichts mehr hören. Theo Schneider machte sich Notizen. Es ging wohl darum, mögliche Kontakte von Kleist zu erfassen, die vielleicht seinen jetzigen Aufenthaltsort erklären könnten. Aus der alten Music-Box in der Ecke drangen wehmütige Klänge:

Als ich ein kleiner Junge war
War die Welt ein Märchen
Unheimlich groß und voll Gefahr
Ne Schatztruhe voller Gummibärchen
Jede Mauer eine Burg
Jeder Keller ein Verlies
Und das Gestrüpp im alten Park
Ein wildes Paradies

An einem Nachbartisch war auch eine Unterhaltung im Gange, zwischen zwei älteren Herren, von denen Aaron einen kannte. Es war Dr. Zacharias, der Anwalt der Burckhardts. Der andere führte das große Wort. Eben sagte er mit erhobener Stimme:

„Mein sehr verehrter Herr Doktor, Sie werden doch zugeben, daß die Realität stets den Gedanken und Worten der Menschen hinterherhinkt!“

„Aber keineswegs! Allenfalls bin ich bereit zu konzedieren, daß unter gewissen Kautelen ...“

„Ach was, Kautelen, Kautelen. Kautabak! Nehmen Sie doch nur mal uns!“

„Wie?“

„Na, haben wir uns vorhin über Ihren Schneider unterhalten?“

„Das könnte man so umschreiben.“

„Na bitte. Und schon kommt er!“

„Mein Schneider !?“

„Nein, ein Schneider. Sehen Sie doch, der junge Mann, der auf uns zu kommt.“

„Der Herr ist gerichtsbekannt. Ein Polizeibeamter, kein Schneider!“

„Aber er heißt Schneider.“

„Nun ja.“

„Obwohl er Polizist ist. Erkennen Sie die subtile Ironie dieser Tatsache?“

„Eigentlich nicht.“

„Eben! Eben!“

„Aber mein lieber Forstrat!“

Der so Angesprochene hatte sich jedoch inzwischen von seinem Gesprächspartner abgewandt. Er sah auf Theo Schneider, der an den Tisch getreten war. Theo begrüßte den Anwalt nur mit einem kurzen Nicken und sagte dann:

„Herr Mendelssohn, wie geht es Ihnen?“

„Am liebsten gut, junger Freund. Und selbst? Haben Sie heute schon Ihr Pensum erfüllt?“

„Wie?“

„Na, Gesetzesübertreter gefaßt und bestraft.“

„Als Organ der Rechtspflege muß ich darauf hinweisen, daß Inspektor Schneider lediglich im Rahmen seiner gesetzlichen ...“

„Ach was! Papperlapapp! Sieben auf einen Streich. Das ist ja wohl die Norm, oder? Ganz wie bei ihrem großen Vorbild.“

Theo blickte rat- und sprachlos auf den Forstrat. Der ließ sich aber nicht irritieren.

„Das tapfere Schneiderlein, Sie wissen schon.“

Empört mischte sich wieder Dr. Zacharias ein:

„Mein lieber Forstrat. Sie gehen zu weit! Ich stelle doch anheim, den nötigen Respekt walten ...“

„Ach was, Respekt, Respekt. Schweinespeck! Mit Speck fängt man Mäuse. Weiß doch jeder Schneider. Und 'Nomen est Omen' heißt es schließlich, oder nicht?“

„Schon, schon, jedoch...“

„Auch die Bibel ist da ganz eindeutig: 'Ich habe dich bei deinem Namen genannt', nicht wahr? 'Du bist mein', nicht wahr?“

„Nun wohl, doch...“

„Oder nehmen Sie Rumpelstilzchen!“

Mendelssohn ereiferte sich immer weiter, und Theo Schneider wußte nicht, ob er lachen oder weinen sollte. Schließlich gelang es ihm doch, auf sein eigentliches Anliegen zurückzukommen und die beiden nach Kleist zu fragen. Es stellte sich heraus, daß sie auch nichts über dessen Verbleib wußten, und Theo ging daraufhin wieder zu seinem Chef, erleichtert, dem Gedankensalat des regen Waidmannes zu entkommen.

Anders als Aaron und Lisa hatte ich dem Gespräch amüsiert gelauscht. Doch jetzt wollte ich wissen, was in der neuen Botschaft stand. Außerdem redeten die beiden Herren nun auch etwas leiser, und nur noch gelegentlich hörten wir Sprachfetzen wie „Sesam öffne dich“ oder „Unterlassungserklärung“ vom Nachbartisch.
Ich drängte Aaron vorzulesen. Und da traute ich meinen Ohren nicht:

Ich weiß nicht, welches der Dinge
oder ob es der Wind enthält.
Das Rauschen der Vogelschwinge,
begreift es den Sinn der Welt?

Unglaublich! Das mußte der Forstrat vom Nebentisch mit 'hinterherhinkender Realität' meinen. Der Text war doch tatsächlich eine Strophe des Eich-Gedichts, das mir schon vor der Fahrt im Kopf herumgegangen war.

„Alter! Was ist? Sprichst du nicht mehr mit jedem?“

Ich sah Aaron an. Der hatte mich wohl etwas gefragt, das bei mir nicht angekommen war. Er wiederholte:

„Kennst du das?“

„Na, und ob! Wieder ein Gedicht von Eich. Heißt 'Die Häherfeder'.“

„Du meinst 'Häher' wie 'Eichelhäher'?“

„Ja, genau.“

„Parbleu! Was für ein Zufall!“

„Glaubst du das?“

„Ach so. Du meinst, ein Hinweis auf die Kneipe hier?“

„Ja. Und auf ihren Besitzer!“

Das mußten wir beide einen Moment lang verdauen. Noch einmal klang die Musik herüber:

Jetzt sitzt der Zauberer im Knast
Und seine Formeln helfen nicht
Und die Prinzessin langweilt sich
Im Versicherungspalast
Wo ist das Singende Schwert?
Wer füttert jetzt mein schwarzes Pferd?
Prinz Eisenherz ist tot.

Dann hörte man vom Nachbartisch wieder Mendelssohn:

„Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren
Sind Schlüssel aller Kreaturen“

Der Schlüssel! Ich mußte doch noch mit Theo reden! Die Polizisten machten sich gerade bereit, wieder zu gehen. Ich griff in meine Hosentasche.

„Und man in Märchen und Gedichten
Erkennt die wahren Weltgeschichten“

Der Schlüssel war nicht mehr da!
Schneider und Widemann standen schon an der Tür. Ich suchte fieberhaft in allen anderen Taschen.

„Dann fliegt vor einem geheimen Wort
Das ganze verkehrte Wesen fort“

Fort! Alle Taschen waren leer! Kein Schlüssel!
Ich hatte das Gefühl, daß ich kreidebleich wurde. Aaron und Lisa sahen mich an. Ich stöhnte:

„Der Schlüssel ist weg!“


* * *



Hinter dem Fahrrad mit Hilfsmotor staute sich der Verkehr. Die entgegenkommenden Fahrzeuge machten es in der engen Straße unmöglich, das Hindernis zu überholen. So hatte sich schon eine ziemliche Schlange von Autos gebildet.
Gustav Kleist blickte in den Rückspiegel. Fuhr da nicht an dritter oder vierter Stelle auch ein Streifenwagen? Nervös sah er sich nach einer Möglichkeit um, rechts ranzufahren. Da vorn konnte es gehen. Er hielt an und ließ die Autos passieren. Im Vorbeifahren warfen ihm die meisten Fahrer noch einen mißbilligenden Blick zu. Einer zeigte ihm sogar einen Finger.
Und da kam tatsächlich ein Polizeiwagen. Kleist drehte sich rasch zur Seite. Durchaus möglich, daß sie ihn schon suchten. Vorsichtshalber schob er sein Rad in eine kleine Seitenstraße und blieb dort stehen. Vor Aufregung zitterten ihm die Knie. Nur die Ruhe behalten! Und nachdenken.
Wo sollte er hin? Nach Hause nicht. Das war klar. Da würden sie zuerst nachsehen. In ein Hotel konnte er auch nicht. Und Freunde, die er in der Stadt hatte, würden Erklärungen verlangen. Außerdem wußten die Kinder von all seinen Kontakten.
Früher war er gelegentlich mal in Braunschweig untergetaucht. Er hatte dort einige Schlupfwinkel. Aber nach dem Mord traute er sich nicht mehr in die Stadt. Bestimmt wurde auch da nach ihm gefahndet.
Nein, er mußte an einen Ort, wo ihn niemand vermuten würde, auch der Mörder nicht. Was käme da in Frage? Das alte, verlassene Kloster bei Dorstadt fiel ihm ein. Ja, eine gute Idee! Da wäre er sicher. Nachdem er sich entschieden hatte, wurde er ruhiger. Er stieg auf und wollte losfahren, als er in der Nähe einen Bekannten sah, der ihm zuwinkte. Er winkte zurück, wendete dann aber sein Rad und entfernte sich nordwärts.
An der nächsten Kreuzung bog er ab und fuhr um den Block, bis er wieder auf eine Straße nach Süden kam. Vielleicht war er ja übervorsichtig, aber besser, niemand könnte sagen, in welcher Richtung er die Stadt verlassen hatte.

Von Zeit zu Zeit sah er sich um, ob er doch noch ein bekanntes Gesicht entdecken konnte.
In Dorstadt angekommen, fuhr er auch zunächst an dem Kloster vorbei, um sich ihm danach auf Feldwegen von der Rückseite her zu nähern.
Im Innenhof des Klosters schob er sein Mofa an dem zerfallenen Brunnen vorbei zu einer Art Scheune. Dort verstaute er das Fahrzeug und versteckte es hinter Brettern und anderem Gerümpel.
Dann ging er zu dem Hauptgebäude, das die ehemaligen Klausen für die Mönche beherbergte. Im Eingangsbereich mußte er über Abfallberge steigen, die sich da angesammelt hatten, und aufpassen, daß er nicht in Kot und Urin trat.
Drinnen nahm zwar die Verschmutzung ab, doch es war dunkel und das Gemäuer verfallen. Vorsichtig stieg er die baufällige Treppe empor und kam zu den Klausen. Einige waren anscheinend gelegentlich schon bewohnt gewesen. Vielleicht von Landstreichern. Ihre Überreste hatten inzwischen wohl auch wilde Tiere durchwühlt. Nach einer Weile fand er einen Raum, der noch relativ sauber und trocken war. Dort setzte er sich auf eine Kiste und beschloß, zunächst einmal den Rest des Tages und die Nacht hier zu verbringen.
Er war erschöpft von den Anstrengungen der letzten Stunden und dachte:

„Ich bin einfach zu alt für solche Eskapaden. Ich sollte gemütlich zuhause hinter dem Herd sitzen und Briefmarken sortieren.“

Aber für den Aufenthalt in einer Polizeizelle fühlte er sich ebenfalls zu alt. Deshalb durften sie ihn nicht finden. Schließlich war er es gewesen, der Malchen nach Braunschweig gebracht hatte, wo sie dann ermordet worden war. Als er daran dachte, tat ihm die Frau leid. Andererseits war sie aber auch zu gierig gewesen. Gierig und dumm. Nein, sie hatte ihr Schicksal verdient.
Anders war es mit Diana. Der mußte es jetzt wirklich schlecht gehen. Eigentlich sollte er bei ihr sein. Nicht zuletzt, um ihr klar zu machen, daß das traurige Ereignis auch eine gute Seite hatte. Immerhin war Diana mit einem Schlag erheblich reicher geworden.
Ein Reichtum, der nur auf ihn wartete. Allerdings mußte er dazu wieder auftauchen. Wie sollte er das anstellen? Was wäre eigentlich, wenn er der Polizei alles erzählte? Würden sie ihm glauben? Wohl eher nicht. Aber gab es nicht auch Beweise für seine Geschichte? Oder umgekehrt: Was konnten sie ihm eigentlich beweisen? Vielleicht war er doch gar nicht so schlecht dran. Jedenfalls mußte das genau überlegt werden. Morgen. Dann würde er auch klarer sehen.
Er machte sich ein Lager für die Nacht zurecht. Draußen dämmerte es langsam. Auf dem Hof krächzte ein einsamer Rabe.


* * *



Im Auto erzählten wir Lisa davon, wie wir den Schlüssel gefunden hatten. Das heißt, Aaron erzählte. Ich war zu verzweifelt darüber, daß ich ihn schon wieder verloren hatte. Freiberg im CD-Spieler schloß sich meiner mißmutigen Stimmung an:

Deine Uhr geht nach und meine vor
Und alle Bilder hängen schief
Ich stolpre schon im Korridor
Und du kriegst einen blauen Brief

Aaron versuchte, mich aufzumuntern:

„Hey Alter! Laß dich doch nicht hängen. Den finden wir schon.“

Komm, wir trinken auf die Liebe
Oder auf die Heilsarmee
Wir trinken auf den Sand im Getriebe
Und die Löcher im Schnee

Ich hob skeptisch die Augenbrauen. Aber mein Freund war wirklich überzeugt:

„Auf jeden Fall! Weit kann der Lümmel ja nicht sein. Ist dir bestimmt aus der Tasche gefallen, als du Diana aufgefangen hast.“

Das konnte tatsächlich sein. Ich fuhr noch etwas schneller. Die schlechte Straße war mir jetzt egal. Am Weghaus begrüßte uns Rollo freundlich. Er sprang zuerst zwischen Aaron und mir hin und her, blieb dann aber an Aarons Seite. Verblüfft nahm ich das zur Kenntnis. Doch ich hatte im Moment andere Sorgen. Schnell begann ich, im Gras nach dem Schlüssel zu suchen. Weil ich ihn nicht gleich finden konnte, teilten wir die Arbeit unter uns auf und suchten dann zu dritt, ganz sorgfältig, Meter um Meter. Auch Rollo half mit. Er war schließlich der einzige, der wirklich etwas fand: einen alten Knochen.

Ich war mit meinen Nerven am Ende. Aaron hatte ja recht. Nur hier konnte ich den Schlüssel verloren haben. Aber wenn das so war, dann mußte ihn inzwischen jemand anders gefunden haben. Nur wer?
Als ich mit Theo zusammen Diana ins Haus gebracht hatte, waren Aaron und Lisa noch draußen geblieben. Sollte einer von ihnen ...? Aber nein, das konnte nicht sein. Diana vielleicht? Während wir alle weg waren? Aaron meinte:

„Dann ist er eben drinnen aus deiner Tasche gefallen. Komm, laß uns nachsehen!“

Wir gingen hinein und suchten auch dort alles ab. Ohne Erfolg. Diana kam von oben herunter und wunderte sich, was wir da machten. Lisa sagte:

„Hast du vielleicht den Schlüssel gefunden?“

„Welchen Schlüssel?“

Offensichtlich wußte Diana gar nicht, worum es ging. Sie war noch deutlich mitgenommen von dem Schock, den die Nachricht von Malchens Tod ihr versetzt hatte. Irritiert blickte sie von einem zum anderen und fing dann an zu weinen. Lisa nahm ihre Cousine in den Arm, um sie zu trösten.
Ich hatte ein schlechtes Gewissen, daß mir der Schlüssel wichtiger war als der Tod eines Menschen. Betreten sah ich den beiden zu. Aaron wußte auch nichts zu sagen. Lisa war immer noch wütend auf Kleist. Als sich Diana ein wenig beruhigt hatte, rief sie:

„Dieser verdammte Mistkerl! Ich wußte die ganze Zeit, daß er von Grund auf böse ist.“

„Aber Lisa, Gustav hat doch nichts mit Malchens Tod zu tun!“

„Natürlich! Siehst du das etwa immer noch nicht?“

„Nein, nein. Du irrst dich. Bestimmt! Er war ja selber total erschrocken, als er davon gehört hat.“

Lisa und ich sahen sie erstaunt an. Ich fragte:

„War Kleist denn noch mal hier?“

„Ja, gleich nachdem ihr weggefahren seid, ist er gekommen. Ich weiß gar nicht, was er eigentlich wollte. Aber ich hab ihm dann erzählt, was die Polizisten gesagt haben, und auch, daß sie ihn suchen. Er war entsetzt.“

„Und, hat er etwas dazu gesagt?“

„Ja: 'Wie furchtbar', hat er gesagt, 'wie furchtbar'. Aber dann ist ihm eingefallen, daß er ganz schnell weg mußte. Ich dachte, er ist euch hinterher. Habt ihr ihn denn nicht getroffen?“

Lisa lachte bitter: „Wo immer der auch hin gefahren ist, bestimmt nicht in die Nähe der Polizei.“

Das glaubte ich allerdings auch nicht. Wo mochte der Alte jetzt stecken? War er zurückgekommen, um noch einmal nach dem Schlüssel zu suchen? Und hatte er ihn dann sogar gefunden?
Ich war verzweifelt. So nah vor dem Ziel! Und jetzt sollte am Ende doch alles verloren sein?


* * *



Er legte ein weiteres Fertiggericht in seinen Einkaufswagen. Für aufwendige Menüs würde er in den nächsten Tagen keine Zeit haben. Ungeduldig wartete er hinter einer Frau, die den Weg versperrte. Endlich konnte er vorbei. Noch schnell eine Flasche Rotwein, dann auf dem kürzesten Weg zur Kasse.
Das Gedrängel in den immer zu schmalen Wegen in Supermärkten war ihm zuwider. Und er regte sich jedesmal darüber auf, wenn andere Kunden scheinbar ziellos durch den Laden gingen, unkontrolliert mitten im Weg stehen blieben oder plötzlich umkehrten. Seine Einkäufe waren immer genau koordiniert. Er versuchte, keinen Weg zuviel zu gehen und nahm, ohne zu zögern, nur die vorher eingeplanten Artikel aus den Regalen.
Das nächste Ärgernis waren die Kassen. Wie immer stellte sich heraus, daß er an der falschen stand. Es ging nur im Schneckentempo voran. Eine Frau vor ihm hatte mehr mit ihrem kleinen Kind als mit den Einkäufen zu tun. Eine andere ging vor ihrem Wagen zur Kasse, anstatt dahinter. Die Mutter mußte natürlich auch noch mit Kreditkarte bezahlen. Nervös wartete er, bis er seine Sachen auf das Band legen konnte. Die Kassiererin war auch nicht gerade die Schnellste. Er nahm ihr die eingescannten Waren direkt aus der Hand und verstaute sie wieder in seinem Wagen. Bezahlte und drängte sich dann durch das Gewühl im Ausgangsbereich, froh, wieder hinaus zu können.
Draußen wehte ihm die frische Frühlingsluft entgegen und machte ihn wieder ruhiger. Er packte die Einkäufe in die Tasche und verstaute sie in seinem Auto. Dann fuhr er die kurze Strecke direkt in den Ort.



Hornburg wirkte wie ausgestorben. Die wenigen Menschen, die nicht in die nähere und weitere Umgebung zu ihren Arbeitsplätzen gefahren waren, saßen jetzt anscheinend allesamt in ihren Häusern beim Mittagessen. Eine Geisterstadt ohne Anzeichen von Leben. Nicht einmal Tiere waren in den Straßen zu sehen. Er blickte an den mittelalterlichen Häuserzeilen entlang. Sie hätten auch gut eine Filmkulisse sein können. Ein Drehort, der nur auf das „Action!“ des Regisseurs wartete, um belebt zu werden. Schauplatz zu sein für eine dramatische und bewegende Geschichte von Liebe und Leid. Doch das Kommando kam nicht. Die Straßen blieben leer. Die Geschichte unerzählt.
Dummerweise konnte er nicht ganz bis zu seiner Wohnung fahren und mußte etwas entfernt parken. Er nahm seine Tasche aus dem Auto und ging das letzte Stück zu Fuß. Dabei dachte er an die bevorstehenden Aufgaben. Um den Alten mußte er sich auch noch kümmern. Der war wirklich eine wertvolle Hilfe gewesen. Ohne ihn wäre es ihm weit schwerer gefallen, an die Frau heranzukommen, und an ihr Wissen. Doch jetzt wurde er allmählich zu einer Bedrohung. Das konnte er nicht zulassen. Er würde etwas unternehmen müssen. Aber alles zu seiner Zeit. Zuerst war anderes wichtiger.

Zuhause packte er rasch die Lebensmittel weg und setzte sich dann wieder an den Tisch. Er schob die schon beschriebenen Papierstücke beiseite und legte ein leeres Blatt vor sich hin. Schraubte den altmodischen Füller auf und begann mit der Arbeit.
Wieder und wieder setzte er die Unterschrift auf das Papier, zuerst langsam und überlegt, immer mit einem Auge auf dem Original. Nach einer Weile, als er sich dem Vorbild wieder angenähert hatte, wurde seine Hand jedoch zunehmend zügiger.
Drei weitere vollgeschriebene Seiten später war er endlich zufrieden. Die letzten zehn Unterschriften wirkten allesamt akzeptabel. Das mußte jetzt reichen. Gerne hätte er noch länger geübt, aber die Zeit drängte.
Er nahm ein anderes schon vorbereitetes Blatt zur Hand. Als Überschrift stand da 'Bankvollmacht'. Schwungvoll setzte er den Schriftzug auf das Papier: Horst Wagner.
Kritisch betrachtete er das Ergebnis. Verglich es mehrfach mit dem Original. Ja, das sah gut aus. Zur Not konnte er auch noch den Paß vorlegen. Und er kannte schließlich das Kennwort.
Wohlweislich hatte er darauf bestanden, bei der Einrichtung des Schließfachs dabei zu sein. Der Journalist war nicht einmal mißtrauisch gewesen, weil er ja den Schlüssel behalten hatte. Ein kluger Schachzug. Der ihm dann doch beinahe zum Verhängnis geworden wäre. Denn das Versteck war wirklich clever ausgedacht gewesen. Auch noch den dämlichen Hund als Aufpasser einzusetzen. Alle Achtung! Zum Glück hatte die Frau ihm auf die Sprünge geholfen. Sonst wäre es schwer geworden. Aber nun war er fast am Ziel. Er goß sich ein Glas Rotwein ein und prostete sich selbst zu.

Komm, wir trinken auf die Liebe
Auf die Asche im Kamin
Auf das Geschubse und das Geschiebe
Auf dich und mich und sie und ihn

Selbstzufrieden lächelte er und griff in seine Hosentasche. Als er die Hand wieder herausholte, war sie zu einer Faust geschlossen. Er öffnete sie und präsentierte einem unsichtbaren Publikum: den Schlüssel.






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